Flucht und Vertreibung

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Vorbemerkung:

Einige Bewohner Wendisch-Silkows haben ihre Erinnerungen auch über die Zeit ab 1945 bis zur Vertreibung zu Papier gebracht. Die Namen der Verfasser sind bekannt.

Auszugsweise Abschrift aus den Aufzeichnungen des Pastors Fritz Käding, Schwerinshöhe (Wendisch-Silkow), Kreis Stolp

18.01.1945 - Beginn des russischen Vormarsches zum letzten Angriff, von Warschau direkt gegen die Oder Richtung Küstrin/Neumark. Jetzt im Pfarrhaus Einquartierung abziehender deutscher Formationen: erst Arbeitsdienst aus Westpreußen und Krs. Lauenburg, Pferdedepot der Wehrmacht. Danach die endlosen täglichen Trecks der Ostpreußen, die in den Nachmittagsstunden ankommen, über Nacht bleiben und bis 9 Uhr weiter trecken müssen. Viel Elend. Haus oft überfüllt, besonders in der Zeit kurz vor dem Zusammenbruch. Beide Gemeindesäle und fast alle Zimmer belegt.

18. Februar: Einsegnung der Kinder in Schwerinshöhe

25. Februar: Einsegnung der Kinder in Schwerinshöhe

Täglich unterwegs auf Beerdigungen, auch der Treckleute. Manchmal ist auf der Chaussee kein Durchkommen. Frieda (Hausangestellte) trägt viele Sachen zu Paeths zum Eingraben in die Kartoffelkuhle. Lebrecht Bonke - Bandsechow holt 2 Säcke mit Betten ab, die nachher leider verloren gehen. Kurz vor dem Zusammenbruch kommen die Trecks aus Richtung Stolp. Der Russe hat Hinterpommern eingekesselt. Wüstes Durcheinander auf den Straßen und in den Dörfern. Taufe von mehreren Kindern im Hause.

8.3.1945 - Haus vollgestopft mit Flüchtlingen bis unter das Dach. Abends Einquartierung Wehrmacht (Regiment Großdeutschland) und SS. - Wir schlafen in der kleinen Stube an der Südseite. Gegen 12 Uhr erscheint Herr Paeth, um uns abzuholen, da die Brücken der Lupow um 1 Uhr gesprengt werden sollen. Wir springen mit unseren Rücksäcken aus dem Fenster, da das Haus zu voll ist, und fahren mit Familie Paeth in den Wald in Nähe der Schwarzmühle. Totenstille nach der Sprengung um 1 Uhr. Stille vor dem Sturm.

Wir schlafen draußen bis gegen 7 Uhr. Da hört man in der Ferne Schüsse, bald näher. Die Russen rücken mit ihren Panzern und Kavallerie auf der Chaussee über Schwerinshöhe und auf der Chaussee über Groß Garde vor.

9. März 1945 - Einmarsch der Russen ins Dorf. Wir bleiben bis 2 Uhr im Wald und kehren ins Dorf zurück. Pfarrhaus wird besetzt vom Lazarett der russ. Panzer. Haus in 20 Minuten geräumt. Ich gehe noch einmal durchs Haus, nehme einige Sachen mit und begebe mich zu Paeths, wir essen dort. Bald wimmelt es von Russen im Dorf, die sofort anfangen zu stehlen und die Frauen zu belästigen und zu schänden! Gegen 6 Uhr mit Frieda, Frieda Gabbey, Lilli und Vera Paeth vor den Russen ausgerückt zur Schwarzmühle, wo wir dann bis 23. Juni unser Quartier haben. Nach Verlassen des russ. Lazarettes wird Pfarrhaus z.T. bewohnt von einer russ. Krankenschwester und von früheren Kriegsgefangenen. Wir gehen einige Male ins Haus und sehen, wie es dort zugeht. Zu Pfingsten Einquartierung von 70 russ. Soldaten, die die Bahnstrecke Stolp-Dargeröse abmontieren. Haus wüst und voller Schmutz, nachdem wir es einigermaßen gesäubert hatten. Die Russen demolieren Schränke und andere Gegenstände, Bücher liegen draußen und rings um das Haus. Stroh, Schmutz und Pröhl bis zur Fensterhöhe. Nach Verlassen der Russen fangen wir wieder an aufzuräumen. Gegen Abend gehen wir auf die Schwarzmühle. Frieda hilft Frau Bessel in der Wirtschaft. Sie ist kurz vor Ostern in Arbeit bei der russ. Kompanie in Altgutzmerow, schläft aber in Schwerinshöhe.

Ich gehe mit Kappes (Dolmetscher, Ostpreuße) am 18.3. nach Schmolsin zu Oberkommissar der GPU Major Dr. Borodowski und erhalte Dokument zwecks Ausübung meines Amtes. Russe sehr freundlich und entgegenkommend. Alle Amtshandlungen gestattet mit Ausnahme von Predigt und Trauung.

Anfang Juni 1945 erneute Einquartierung von 5 Russen für 10 Tage. Wir ziehen wieder aus und wohnen bei Familie Paeth. Ich bin tagsüber im Haus und Garten und pflücke Himbeeren.

Der russ. Sergeant von Schojow gibt mir Erlaubnis zu predigen. Von Mitte Juni bis Mitte September 1945 finden Gottesdienste statt, bis der Pole von mir Ausweis verlangt, den ich beim Starost in Stolp beantrage, aber nicht erhalte. Zugleich mit dem Gottesdienst findet Konfirmandenunterricht statt, der ab September auch aufhört, bis Starost Ausweis gibt, der nicht eintrifft. In die Schule zieht polnische Lehrerin ein, ich muß daher die Stube bei Falks räumen, in der ich von Ende Juni an gewohnt hatte. Frieda während dieser Zeit bei Paeths, sie liegt 3 Wochen schwer krank, wahrscheinlich Typhus.

Danach beziehen wir endgültig wieder das Pfarrhaus (Anfang Oktober). Poln. Dreschkolonne und Russenkommando von 5 Mann wollten bei uns Quartier beziehen, nahmen aber davon Abstand, weil Haus zu wüst und schmutzig.

7. November 1945 - Geburtstag. Gesang der Frauen, die mich überreichlich mit Lebensmitteln beschenken. Aus den Dörfern, vor allem Sorchow, erhalte ich den nötigen Lebensunterhalt und leide keine Not. Durch Genehmigung der poln. Miliz in Sorchow darf ich Totensonntag, 1. Advent und an den Weihnachtstagen und Neujahr 1946 predigen. Miliz ist entgegenkommend.

1946

17. März werde ich krank und liege bis Mitte Mai zu Bett. Predigterlaubnis durch den poln. Amtskommissar Groß Garde, den ich persönlich aufsuche. Für jeden Sonntag besondere Genehmigung. Wir müssen die Gottesdienste bezahlen, zuerst 10 Zlotys, dann 25, 50, schließlich 100 Zlotys für einen Gottesdienst mit Kindergottesdienst. Gleich nach Pfingsten segne ich Ostpreußenkinder ein. Kirche ist überfüllt. Jeden Sonntag starker Besuch der Gottesdienste.

Am 7.12.1946 unser Abtransport über Garde nach Stolp mit Autobus (250 Zloty pro Kopf), ca. 125 Gemeindemitglieder. In Stolp Kontrolle durch poln. Steuer- und Zollbeamte. 35 Mann bilden einen Trupp, jeder erhält gestempelte Zettel, wenn er Kontrolle hinter sich hat. 1.000,-- RM dürfen mitgenommen werden. Poln. Geld wird abgenommen. Übernachten im Deutschen Siechenhaus in der Amtsstraße auf den Korridoren.

8.12.1946 - Gegen 11. Uhr Abrücken zum Bahnhof Stolp. Gepäck schleppen, Hilfe durch Deutsche aus Stolp. Starker Regen, Rücksäcke und Gepäck durchnäßt, nasse Kleider und Schuhe. Gegen 5 Uhr besteigen wir den Viehwagen mit eisernem Ofen, zu 35 Personen. Poln. Miliz begleitet den Transport. Lebensmittel für 2 Tage werden ausgegeben. Abfahrt gegen 8 Uhr, wir fahren nachts durch Hinterpommern und sehen nicht die zerschlagene Heimat. Fahrt geht über Stargard-Kreuz-Posen-Forst/Lausitz, wo wir die russ. Zone betreten. Leute singen, als wir Stolp verlassen und singen, als wir am 10.12. abends das deutsche Verwaltungsgebiet betreten. Auf der letzten Station auf poln. Seite Entlausung und Antreten zur Übergabe an die Deutschen.

11.12. Ankunft im Lager Blankenburg/Harz.

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Unter Russen und Polen in Schwerinshöhe bis zur Vertreibung

auf Tonband erzählt von Frau Elfriede X, geb. Y, aufgeschrieben von Paul Gerhard

Am 9. März 1945 erschienen die ersten russischen Soldaten in unserem Dorf. Zuerst verlangten sie Uhren, Ringe und Schmuck, manche wollten nur Milch oder Eier. Auf unserem Hof ging es zu wie in einem Taubenschlag, immer wieder kamen andere Soldaten, mal mit dem Auto, mal zu Pferde oder einfach zu Fuß. Mein Fahrrad, das ich extra gut unter dem Stroh versteckt hatte, wurde auch gefunden und mitgenommen. Nach und nach fanden sie auch verstecke Lebensmittel, Wäsche und alles, was ihnen wertvoll erschien.

Meine Eltern, schon etwa 60 Jahre alt, warnten mich jedesmal rechtzeitig, denn ich war zu dieser Zeit erst 23 Jahre alt. So konnte ich mich immer wieder gerade noch mit meiner 4-jährigen Tochter in einem Bodenverschlag verstecken. Mein Mann war zu dieser Zeit als Soldat eingezogen, ich wußte nicht, wo er war. Erst nach Monaten bekam ich eine Nachricht. ---

Nach ein paar Tagen - noch im April 1945 - hieß es, alle müssen raus, das Dorf muß geräumt werden. Später wurde erzählt, die Rote Armee hätte einen deutschen Gegenangriff von der Ostsee her erwartet und habe einen bestimmten Geländestreifen hinter der Küste räumen lassen. Ich glaube aber, die wollten uns nur aus den Häusern haben, um gründlich plündern zu können.

Da wir noch unser Pferd hatten, spannten wir an, luden das Nötigste auf und fuhren nach Sorchow, wo wir bei einer Familie in beengten Verhältnissen unterkamen. Hier machte ich übrigens die erste Bekanntschaft mit einer Laus!

In Sorchow gab es eine russische Kommandantur, die uns Frauen vor den Nachstellungen der Soldaten zu schützen versprach. Trotzdem passierte noch genug.

Eines Tages - das muß wohl Anfang Mai gewesen sein - hieß es dann “Danzig kaputt - ihr alle wieder nach Hause.” Vater, Mutter und meine Tante packten ihre Sachen und fuhren zuerst nach Hause, ich blieb mit meiner kleinen Tochter sicherheitshalber noch einige Zeit in Sorchow und kam später nach Schwerinshöhe.

Wir versuchten in unserem Haus wieder Ordnung zu schaffen und begannen mit der Feldbestellung so gut es ging. Da unser Pferd ein schwerer Ackergaul war, hatte man es uns noch gelassen. Aber sonst wurde uns nach und nach das Vieh gestohlen und weggetrieben. Einige Wochen nach der Rückkehr, - es war der Tag, an dem die von den Russen ermordete Frau Eick beerdigt wurde -, kamen die Russen mit Pferden auf den Friedhof geritten, trieben alle Männer zusammen und verschleppten sie.

Mein Vater wurde von der Arbeit auf den Hof geholt, meine Mutter konnte ihm gerade noch eine Jacke zuwerfen. Er mußte mit anderen Männern zunächst zur Kommandantur nach Schmolsin laufen, von dort ging es weiter nach Stolp. Aber da mein Vater schon 60 Jahre alt war und unrasiert wohl noch älter aussah, schickte man ihn nach einigen Tagen wieder nach Hause zurück. Wir freuten uns natürlich über diese Heimkehr, aber die Freude dauerte nicht lange, da wurde er wieder abgeholt, nach Stolp gebracht und dort zu Arbeiten in den Schrebergärten eingesetzt.---

Inzwischen wurde das Leben im Dorf immer schwieriger. Die meisten Männer waren abgeholt, das Vieh wurde nach und nach aus allen Ställen weggetrieben. Später erzählte man sich Geschichten, wie mancher seine letzte Kuh in der Scheune hinter Strohballen versteckte, oder in den Wald und das Moor getrieben hat. Erich Paeth erzählte später bei einem Heimattreffen, daß seine Familie ein Schwein im Keller gefüttert habe. Aber das waren Ausnahmen. Langsam aber sicher kam der Hunger und damit auch der Typhus. Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen hatten diese Krankheit mitgebracht.

Nun wurden auch die zurückgebliebenen Mädchen und Frauen zu Arbeiten herangezogen. Die Russen ließen die Eisenbahnschienen aufnehmen, um sie als Kriegsbeute abzutransportieren.

Nachdem unser bisheriger Bürgermeister Klick verhaftet und verschleppt war, wurde Leo Much von der Besatzungsmacht als Bürgermeister eingesetzt. Er hatte dafür zu sorgen, daß aus jedem Haus eine Arbeitskraft gestellt wurde. Da ich die Jüngste war, mußte ich mitgehen und wurde zum Aufnehmen der Eisenbahnschienen zwischen Schmolsin und Gabel eingeteilt. Wir wurden in einem leeren Haus in Zietzen untergebracht. Früh um 4 Uhr war Wecken. Die schwere Arbeit ging bis abends um 18 Uhr. Dann fanden wir aber keine Ruhe, weil immer wieder Russen hinter uns her waren. Die Verpflegung bekamen wir aus einer Gemeinschaftsküche. Die Russen “organisierten” Fleisch und Lebensmittel aus der Umgebung, wo sie es gerade her bekamen. Eines Tages muß ich mitansehen, wie so ein Russe mit unserer Kuh und zwei Schafen ankommt. Alles wanderte in die Kochkessel. Es gab eben so lange zu essen, wie noch etwas da war.

Die Arbeit war sehr schwer und ungewohnt. Zuerst mußten wir die Schrauben mit großen Schlüsseln lösen, dann wurde Schiene für Schiene auf einen offenen Lorenwagen, der vor uns her fuhr mit großem Geschrei und vereinten Kräften aufgeladen. Man hatte uns versprochen, “wenn ihr in Gabel seid - dann nach Hause”. Also ging ich mit einigen anderen unternehmungslustigen Mädchen von Gabel nach Hause. Aber die Russen hatten das gemerkt, kamen hinter uns her, holten uns zurück, und wir mußten noch einige Tage länger bleiben, bis wir endlich nach Hause konnten.

Ende Mai 1945 war dann unsere Familie endlich wieder zusammen. Bei seiner Zwangsarbeit in Stolp hatte Vater meine Schwester getroffen und ihr geraten zu uns nach Schwerinshöhe zu kommen. Dort sei es sicherer für sie und es gäbe auch noch etwas mehr zu essen. So kam meine Schwester nach Hause - aber trotzdem sollte sie das Jahr nicht überleben.

Auch Vater kam zurück, er brachte sogar eine Bescheinigung in russischer Sprache mit, daß er unser Pferd behalten könnte. Das hatte zwar inzwischen ein lahmes Bein, aber es tat uns noch gute Dienste bei der Feldarbeit, die wir nun wieder begannen. Das war manchmal gefährlich, wenn sich Russen in der Gegend herumtrieben und in die Gegend schossen.

Eines Tages hat uns doch ein Russe das Pferd weggeholt und bei einem Bauern in Stohentin gegen irgendeinen Wertgegenstand eingetauscht. Ich kann mich an den Tag erinnern, denn wir hatten unsere Tante in Klenzin besucht. Fahren konnten wir nicht, so sind wir die neun Kilometer zu Fuß gelaufen, meine Schwester, meine Kusine und ich. Die kleine Tochter hatten wir in einem Sportwagen mitgenommen, da man mit einem Kind dabei, vor den Russen einigermaßen sicher war. Als wir also wieder nach Hause kamen, war unser Pferd weg. Wir am nächsten Tag nach Stohentin zu dem Bauern, ihm die russische Bescheinigung gezeigt und das Pferd wieder abgeholt. Vor dem “Dokument” hatte er doch Angst gekriegt.

So haben wir 1945 doch noch die Felder bestellt und etwas geerntet, natürlich alles mit der Hand, ohne Maschinen.

Im November 1945 kamen dann die Polen.

“Du jetzt raus, alles meins,” sagte der Pole, der eines Tages mit Frau und Kind vor unserer Haustüre stand. Wir mußten sofort das Haus räumen und in eine kleine Kammer über der Waschküche einziehen, wo wir dann teilweise mit fünf Personen eng gedrängt hausen mußten.

Am 6. Dezember starb meine Schwester Erika an Typhus. Niemand hatte ihr helfen können. Es gab zwar noch in Schmolsin einen deutschen Arzt, der mit einer weißen Fahne an seinem Wagen übers Land fahren durfte-, aber was sollte er machen, und wie sollte er helfen können ohne Medikamente? - Es waren im Dorf noch viele Typhuskranke, vor allem die hängen gebliebenen Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, auch meine Mutter erkrankte. Einige überstanden die Krankheit, ausgerechnet meine Schwester Erika, die wir extra aus Stolp nach Hause geholt hatten, mußte sterben .---

Der Pole war überhaupt kein Bauer, auch seine Frau verstand nichts von der Landwirtschaft und achtete nur darauf, daß wir für sie genug arbeiteten. Ich mußte Brot backen, bekam aber nur mit List und Tücke etwas Brot für uns. Die Kuh mußte ich melken, aber durfte keine Milch mitnehmen. Ich war schon froh, wenn ich ab und zu heimlich zu meiner eigenen Stärkung einen Schluck Sahne nehmen konnte. Um die Eier gab es einen täglichen Kleinkrieg. Ich wußte immer noch einige Stellen, wo die Hühner Eier gelegt hatten und holte sie mir heimlich, wenn die Polen nicht da waren.

Die geringe Ernte wußten wir zum Gasthof Bonin fahren, wo noch die einzige Dreschmaschine stand. Alle anderen Maschinen hatten die Russen abtransportiert oder waren kaputt. Speck und Fleisch gab es sowieso nicht mehr und der Hunger nahm immer mehr zu. -

Sonnabends spannte der Pole unser Pferd vor den Wagen, lud mal die Nähmaschine, mal andere Möbel oder Kleidungsstücke auf und fuhr damit nach Stolp, um unsere Sachen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Anfangs hatten wir noch von vergrabenen Einmachgläsern ab und zu etwas Zusätzliches zu essen -, dann hatten das die Polen gemerkt, oder man hatte es ihnen hinterbracht und es war auch damit aus...

Das Leben in Schwerinshöhe wurde nun immer unerträglicher und der Winter und Weihnachten kamen näher. Ein richtiges Weihnachtsfest war das 1946 wirklich nicht mehr. Immerhin holten wir uns aus der Schonung bei Wildes einen kleinen Tannenbaum, auch hatten wir noch etwas Glitzerzeug, mit dem wir den Heiligen Abend, -Vater, Mutter, Tante, meine kleine Tochter und ich feierten. Nur zu essen hatten wir kaum noch.

Als wir im Neuen Jahr an einem Sonntag nach der Kirche zusammenstanden, berichtete jemand, er habe von einem Polen gehört, daß alle Deutschen raus sollten. Wir wollten es zuerst gar nicht glauben, aber auch von anderen Seiten wurde das Gerücht bestätigt. Neu-Bürgermeister Leo Much muß es wohl zuerst genau gewußt haben, denn er reiste mit seiner Familie ab. Auch Andere verschafften sich polnische Zlotys, denn damit konnte man Behörden bestechen und sich Papiere und eine Fahrkarte nach Westen verschaffen. So kam mancher vor dem Transport heraus. Meine Freundin Traute Pirr und einige andere schafften die Ausreise auch- , allerdings konnten sie nichts außer ihrer Handtasche mitnehmen.

Nun hörte man auch von gewaltsamer Ausweisung. Das ging so nach und nach, meistens wurden die Leute nachts abgeholt. Wir Frauen trafen uns heimlich sonntags auf dem Friedhof und tauschten unsere Nachrichten aus, - da ließen uns sogar die Polen in Ruhe. Wir mußten bis August 1947 bleiben. Ein Pole gab uns heimlich den Hinweis, daß wir in einer bestimmten Nacht heraus mußten. Meinen Vater holten wir aus der Mühle, damit wir alle zusammen waren. Unsere Rucksäcke hatten wir schon lange gepackt. Nachts um 2 Uhr donnerte es dann an unsere Tür. Gott sei Dank war es August und warm. Meine Tochter Ingrid war jetzt 6 Jahre alt. Auch sie bekam einen Rucksack umgehängt mit den nötigsten Sachen, damit sie wenigstens etwas zum Wechseln hatte, dazu ein Netz mit einem Kochtopf darin - übrigens existiert der heute noch als Topf für die Hühner - und im Topf als einziges Spielzeug ihren geliebten Teddybär. Nun bekam unser Pole wohl doch noch im letzten Moment ein schlechtes Gewissen und spannte das Pferd vor den Wagen, meine Mutter mit ihrem offenen Bein hätte auch nicht weit laufen können. Jeder durfte ja auch nur so viel mitnehmen, wie er selbst tragen konnte. Vater, Mutter und ich hatten große Rucksäcke und Handtaschen. Ich selbst hatte mir trotz der Hitze drei dicke Unterröcke aus Schafwolle untergezogen.

Nun fuhr uns der Pole in der Nacht nach Groß Garde, wo schon viele Deutsche aus der Umgebung mit Sack und Pack bei Mondschein warteten. Unseren Hof ließen wir in der Nacht zurück, gut, daß wir nichts mehr sehen konnten. Die Polen haben das Haus immer mehr heruntergewirtschaftet und später verfallen lassen. Heute steht nichts mehr davon. Wieviel Menschen hätten davon leben können! Heute, (1982) haben die Polen nicht genug zu essen!---

Am nächsten Tag konnten die Ausgewiesenen auf Leiterwagen nach Stolp fahren - sofern sie Zlotys dafür bezahlen konnten. Uns brachte man in der Amtsstraße unter. Hier gab es wieder strenge Kontrollen, ob wir Geld oder Wertgegenstände bei uns hätten. Ein Pole nahm mir noch eine gute Decke und Geld weg und durchwühlte meinen sorgfältig gepackten Rucksack. Am meisten Angst hatten wir, daß wir Rucksäcke und Gepäck nicht tragen könnten. Aus Erfahrung wußten wir, daß die herumstehenden Polen sich sofort auf das Gepäck stürzten, falls jemand es für einen Augenblick abstellte. Mir passierte es, daß mich der Rucksack nach hinten wegzog und ich fast rückwärts gefallen wäre, aber mein Vater und jemand anderes fingen ich im letzten Moment auf. Schließlich ging’s am 7. August 1947 zum Güterbahnhof, wo Viehwagen bereitstanden, in die wir verladen wurden. Wir sorgten dafür, daß meine Mutter wenigstens auf Stroh liegen konnte und wechselten uns im Stehen und Sitzen ab, da es nicht genügend Platz für alle gab. Trotzdem waren wir alle froh, als sich der Zug in Bewegung setzte und wir Richtung Westen fuhren. Nur weg aus diesem Land, das uns von Tag zu Tag fremder geworden war! Auf einmal stimmte jemand ein Volkslied an, und wir sangen in dem rumpelnden Güterwagen unsere schönen alten deutschen Volkslieder, auch das Lied “Nun ade du mein lieb’ Heimatland!” ---    

Ilse H., geb. Much:

Mein Vater gehörte nicht der NSDAP an, und es war auch seine demokratische Gesinnung bekannt. Deswegen wurde er wohl von den russischen Besetzern vorübergehend als Ortsvorsteher ernannt. Es mußte ja eine Bezugsperson zwischen ihnen und der Bevölkerung geben. Unter den Polen hatte sein Amt keine Gültigkeit mehr. Wir hatten keine Sonderstellung im Dorf und wußten soviel wie alle anderen.

Die Polen, die die Häuser X - Y - Z  in Besitz genommen hatten, waren miteinander verwandt. Diese drei Familien hatten wiederum einen Verwandten bei der Miliz in Stolp. Der sorgte dafür, daß wir so frühzeitig abgeschoben wurden.

Wir hatten für unsere Vertreibung kein Kopfgeld zu entrichten, im Gegensatz zu den nach uns Ausreisenden, wie ich dem Bericht entnommen habe. Von unserem Abtransport in den Westen erfuhren wir auch erst am späten Vorabend. Meine Mutter mußte vom Gänseschlachten aus Sorchow geholt werden, und mein Onkel Willi (Schmidtke) saß z.Zt. noch, für uns grundlos, im Gefängnis in Großgarde, wurde dann doch noch entlassen und konnte mit uns im Oktober 1946 die Heimat verlassen.

Wir wurden frühmorgens auf einen Kastenwagen mit Rucksäcken und Handgepäck bis an den östlichen Stadtrand von Stolp gebracht, von wo aus wir bis zum Bahnhof zu Fuß weiter mußten, dabei hatten wir auch auf einem schmalen Brett die Stolpe zu überqueren, denn die Brücke war gesprengt worden. Den ganzen Weg durch die Stadt begleiteten uns Polen, die die Gepäckstücke aufsammelten, die wir nicht mehr tragen konnten. Auf dem Bahnhof war ein langer Transport zusammengestellt. Wir reisten mit ca. 50 Personen in einem Viehwagon in 14tägiger Fahrt, und während der ganzen Zeit auf den Gepäck sitzend, nach Westdeutschland.

Diese schrecklichen Erinnerungen sind unauslöschlich.

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Im Februar 1982

Erika erzählt - Ursula schreibt es auf:

In den Wintermonaten Januar/Februar 1945 war in unserer Stadt Stolp/Pomm. eine ungewöhnlich gesteigerte Unruhe zu verspüren, eine ausgesprochen düstere, bedrückende Ungewißheit über die Lage der Kriegsereignisse im Osten unseres Landes. Gerüchte, - Gespräche gab es jeden Tag genügend darüber. Wie waren die Nachrichten im Radio, die Sondermeldungen hin und her zu beurteilen, im Augenblick, der von Osten kommenden Wagenkolonnen - die Trecks, - mit Hab und Gut beladen, vorwiegend von Frauen, Jugendlichen und Kindern, in der Minderheit nur von älteren Männern angeführt? Wie sollte man sich verhalten, - was unternehmen, was war richtig, - wie sah die Wirklichkeit denn aus? ---

So vergingen die Wochen in gleichbleibendem Zweifel. -

Am 8. März dann, als jede Besorgnis und Veränderung in den Straßen der Stadt nicht mehr zu übersehen waren, schloß ich unser Geschäft zu und bestieg mit meiner neunjährigen Tochter den bereit gestellten Pferdewagen eines befreundeten Landwirtes aus der Nähe von Glowitz, in der Annahme, dort vor den zu erwartenden Ereignissen mehr Sicherheit zu haben als in einer Stadt. - Auf dem Wege dorthin konnte ich noch in Schwerinshöhe von meinen Eltern und drei meiner Schwestern zu Hause Abschied nehmen. Zu dem Zeitpunkt hatte mein Vater, der die Postagentur dort leitete, noch keine Order sein Amt zu verlassen. - Für wie lange nehmen wir wohl Abschied? - Das stand in den Sternen..., und Vater konnte mich nur dem Schutz unseres Himmlischen Vaters anbefehlen! - Am nächsten Tag erlebten wir die feindlichen Truppen der Russen, dort in Ruschütz, in der ganzen Mentalität ihrer Eigenart !!! - Am darauffolgenden Tag beschlossen einige Männer vom Volkssturm wieder nach Stolp/Pomm. zurückzugehen in der Vorstellung, es könnte dort in der Stadt auch nicht schlimmer zugehen. Mein Töchterchen und ich schlossen uns ihnen an. Wir erreichten unser Ziel, wenn auch mit unangenehmen Unterbrechungen und Belästigungen, -- und mit diesem 11. März 1945 beginnt ein ungewöhnlicher Lebensabschnitt für mich. ---

Bald in einer der ersten Straßen der Stadt werde ich von einem russischen Soldaten angesprochen und aufgefordert mit zur Arbeit zu kommen. Ganz überrascht von dieser Aufforderung bitte ich, mein Töchterchen erst zu Hause abliefern zu dürfen, das ja nur ein paar Straßen weiter entfernt liegt. Schließlich begleitet uns ein Wachtposten nach dorthin. Hier werden wir schon von Schwiegervater und der Tante erwartet. - Man ahnt nichts Gutes als ich mich verabschiede, - Gott sei Dank, - aber noch etwas Essbares mit mir nehme. Der Wachtposten bringt mich zum Versorgungsamt in der Präsidentenstraße. Dort hat sich eine unübersehbare Menschenmenge angesammelt. Es sind dies Männer, Frauen und auch Jugendliche. Hier bleiben wir zwei Tage. Es folgen wiederholte Verhöre, Anschuldigungen, Vermutungen wegen Parteizugehörigkeit und dergleichen. Meine Nichte Helga, - sechzehnhjährig, älteste Tochter meiner Schwester Dorothea, ebenfalls in dieser Gruppe, konnte mich energisch und recht resolut von dergleichen, falschen Anschuldigungen nach mehreren Verhören sozusagen “freisprechen!!!”.

Die Unterkunft und Verpflegung sind alles andere als ausreichend. Die Szenen, die sich unter uns abspielen, sind unbeschreiblich erschreckend. - Wie freue ich mich, als ich dann am nächsten Tag vom Fenster aus mein Töchterchen sehe, das mit einem der Wachtposten “verhandelt”. Sie bekommt schließlich die Erlaubnis mir das Esspaket abzugeben. Welch ein Lichtblick, -- immer noch hoffend, daß unser “Eingesperrt-Sein” nur noch Stunden dauern kann. -- Auch ein zweites Mal läßt man Rosemarie zu mir. (Bekannt ist, daß russische Soldaten eine “Schwäche” für Kinder haben!)

Das nächste Quartier ist das Gefängnis in der Wasserstraße.

Am 13./14. März beginnt dann der Fußmarsch Richtung Altkolziglow, unvollkommen, dürftig bekleidet, was uns nach den Plünderungen am Leibe geblieben ist. Wir übernachten in Scheunen und Kirchen - und erreichen nach Tagen oder Wochen? schließlich Schlochau und danach Konitz. - Am 1. Osterfesttag werden wir in Viehwagen verladen, - es geht ostwärts, das merken wir, Strecke Graudenz - aber sonst wissen wir gar nichts!! Die ganzen Umstände, hier auf engstem Raum sind katastrophal, die seelische Belastung mag ich nicht wiedergeben, denn es ist grausam zu diesem Transport zu gehören...

Unterwegs, auf freier Strecke macht der Zug halt, - die inzwischen von uns Verstorbenen müssen von uns übrigen ausgeladen werden... erlaßt mit bitte, hier eine genauere Beschreibung der Tragödie! Zu diesem Zeitpunkt gehöre ich noch zu der Gruppe, die unerschütterlich an eine bestehende Gerechtigkeit glaubt und den festen Willen hat, zu überleben, - denn es existiert ja noch meine Familie zu Hause! Allerdings, mein Mann ist seit Januar 1945 im Osten vermißt. Es wird doch noch ein Wiedersehen geben, - vielleicht?? sogar eine Begegnung hier im weiten Osten, wer weiß? Das und Ähnliches sind meine Gedanken...

Am 28. April erleben wir den ersten Tag in einem Lager - nagelneue Holzbaracke nimmt uns auf. Wir bekommen sogleich Arbeit - einen Felsen zu einem Bahnschacht abzubauen, Loren be- und entladen - bei 53 Grad Kälte!! und notdürftiger Bekleidung. -

Der weitere Einsatz erfolgt in Korken auf einer Kolchose, also landwirtschaftliche Arbeiten. Wir ernähren uns hier in der Hauptsache von den Früchten des Feldes. Ich werde der Kategorie 1 zugeteilt, bin noch voll arbeitsfähig bewertet, zum Schacht über Tage - schwere Baumstämme zu verladen. - Bald bekomme ich Wasser, bin vollkommen aufgeschwemmt. Wir werden in dieser Zeit zweimal wegen Läusen geschoren. Da bekomme ich Kopfgrippe und anschließend liege ich mit Fieber und Bauchtyphus im Lazarett und kann mich sehr schlecht erholen. - Als ich dann eines Tages in die Sauna geschickt werde, - ein alter Russe fungiert hier als Wachtposten, - errege ich bei demselben ein unbegreifliches Mitleid, - er weint über meinen erbärmlichen Zustand, ja seine Tränen rinnen unaufhörlich! (ich bin nur noch Haut und Knochen, d.h. die Haut kann ich zentimeterweise wegziehen). Durch Fürsprache dieses Russen werde ich für 14 Tage in die Lagerküche beordert, wo ich ich etwas erhole, - (die zusätzlichen Kalorien taten ihr übliches!). Freiwillig bitte ich danach auf der Kolchose zu arbeiten, die frische Luft tat mir immer am besten. Das Mindestpensum war hier 20 Zentner Kartoffeln aufzusammeln, dabei gab’s keinen Bissen Brot, nur eben “Kasch” (ein dicker Getreidebrei).

Eines Tages bildete sich eine unangenehme Entzündung an meinem Hals. Nach der ärztlichen Untersuchung mußte ich die Arbeit sofort abbrechen und ins Lager gehen. Am nächsten Tag dann hat die russische Ärztin die betreffende Stelle örtlich vereist, - es war inzwischen zu einem abscheulichen Geschwür geworden. Ich hatte auf einem ganz gewöhnlichen Stuhl Platz zu nehmen, die deutsche Krankenschwester Inge hielt von hinten mit beiden Händen meinen Kopf, während die Ärztin dieses Übel mit einem ganz gewöhnlichen Tischmesser herausschnitt. Eine nicht alltägliche Situation! Schwester Inges Tränen fielen auf mein Gesicht und vermischten sich mit den meinigen! (Später wurde mir bei meiner Heimkehr ärztlich die Gefahr dieses Unternehmens bestätigt, der Schnitt sei in unmittelbarer Nähe der Halsschlagader).

Der nächste Tag nach diesem Eingriff brachte für mich schon gleich weiteren Arbeitseinsatz. Mit verbundenem Kopf und Hals hatte ich den Lagerhof zu fegen, mit einem besenähnlichen Instrument, - ohne jegliche Borsten! Und damit, wie, - war gleichgültig, mußte der ganze Unrat auf dem Gelände verschwinden. - Ich schaffte es tatsächlich unter großer Mühe! -

Bald danach kamen wir in ein großes Lager (Nr. 7615) in Karabasch im Ural gelegen, wo wir getrennt mit Rumänen untergebracht waren. Zunächst gab es Arbeit auf den umliegenden Feldern. Im Herbst desselben Jahres, das Klima ist um die Zeit schon sehr kalt, mußte ich tagelang, während der ganzen Arbeitszeit im Keller “Kapusta” (Kohl) von Fäulnis befreien, - angetan zwar mit Filzstiefeln an den Füßen, aber - der ganze Keller stand unter Wasser, - ein Zustand ohne gleichen. Nach der ungewohnt schweren Arbeit wurde ich schließlich in ein Erholungslager geschickt, dort waren Unterbringung, Verpflegung und ärztliche Betreuung sehr zufriedenstellend. - Ob im Arbeitslager oder in dem Erholungslager war die wöchentliche ärztliche Untersuchung und zugleich Beurteilung unseres Gesamtzustandes gleichbleibend deprimierend, da dies ohne jegliches Bekleidungsstück zu geschehen hatte und beschämende Äußerungen des jeweiligen Ärzteteams an der Tagesordnung waren. Unsere Sprachkenntnisse waren im Laufe der Jahre in gewißer Beziehung doch schon so weit gediehen, um zu verstehen, worum es dabei ging! -

Ich erlebte auch einmal auf dem Wege zur Sauna, - durch meterhohen Schnee, meine Kräfte waren nicht die besten, und meiner Kameradin neben mir ging es ebenso, - wir stützten uns gegenseitig, - daß der Wachtposten, der uns zu immer größeren Eile antrieb, mit seinem Gewehrkolben uns schmerzhafte Schläge in die Beine verabreichte. Wir vermochten uns dadurch keinesfalls mehr zu beeilen, kaum, daß wir die Sauna nur auf zwei Füßen erreichten. -

Im März 1949 kamen wir nach Tscheljabinsk/Ural in ein Panzerwerk und hatten schwere Arbeit zu verrichten, - in drei Schichten arbeiteten wir. Es waren eiserne Schiebkarren mit Metallteilen zu beladen und zu den jeweiligen Abteilungen zu befördern. Hier verdiente ich monatlich 400 Rubel. Konnte mir nun neben dem einheitlichen “Kasch” noch zusätzlich Margarine und Zucker leisten. Nach der anstrengenden Arbeit in diesem Werk erlebe ich hier den ersten Frauentag, - ein Festtag für uns, - ich erhalte eine Prämie von 15 Rubel für gute Leistungen, außerdem Zivilkleidung und -- die erste postalische Nachricht aus der Heimat! Was das für mich bedeutete und zugleich auslöste ---, in dieser jahrelangen Trostlosigkeit, --- nicht mit Worten wiederzugeben!---

Welch ein Tag, -- als wir, eine ungewiße Anzahl der Insassen dieses Lagers im Ural, für immer verlassen können! - Wann es genau war, ohne Kalender, ohne Zeitangabe, - es war nicht feststellbar. Aber es wurde wahr! Es sollte Richtung Westen gehen. -- Lange danach erreichten wir die Oder/Neiße-Linie bei Frankfurt/Oder. Hier bekommen wir das erste deutsche Geld, 40,-- DM. Am ersten Osterfest 1949 traf unser Transport am Schlagbaum in Friedland in der Bundesrepublik Deutschland ein. Der Empfang war besonders herzlich für uns Spätheimkehrer, mit köstlichem Kakao und bunten Ostereiern. Anschließend war die Einkleidung und Registrierung jedes Einzelnen. Sozusagen der Empfangshöhepunkt war für mich, als der Leiter von Friedland bei meinem Geburtsnamen überrascht nachfragte und wir feststellten, nicht Unbekannte zu sein. Ich wurde für einen ganzen Tag in seine Familie eingeladen. Auch mit seiner Frau bin ich gut bekannt. Es war eine sehr liebevolle Aufnahme, sogar ein wohltuendes Bad konnte ich haben. Am nächsten Tag wurde ich zum Abendzug an den Bahnhof gefahren, um zu meiner Familie zu gelangen. -

Zuvor wollte ich aber noch in Göttingen unterbrechen, da dort zu der Zeit meine jüngere Schwester Ursula lebte, - wie ich durch eine in Tscheljabinsk erhaltene Karte wußte. Ursula hatte keine Mittel und Wege gescheut, alles Mögliche und Unmögliche unternommen, um mir eine Nachricht zukommen zu lassen. Und auf dieser betreffenden Karte, vom Frühling 1948 über das Rote Kreuz erfuhr ich von allen Familienangehörigen, Trauriges und Erfreuliches. - Keiner ahnte an diesem Abend, in welcher Form unser Wiedersehen zustande kommen sollte!

Ursula hatte im gleichen Zug gesessen - von Freunden aus Eschwege kommend, den ich in Friedland dann bestieg. Wir gingen getrennte Wege vom Bahnhof in Göttingen zur Gartenstraße 7, wo Ursula wohnte. Es war inzwischen recht dunkel geworden, es war schon nach 22 Uhr. Ursula hatte unser beider Ziel natürlich vor mir erreicht, sie war gerade dabei, nach der längeren Abwesenheit erstmals tüchtig zu lüften und hatte das Fenster geöffnet. Da auch schon rief ich ihren Namen, in Richtung des erleuchteten Fensters...

Ich, Ursula, .. zweifelte, es konnte doch nicht sein, so spät meinen Namen von der Straße her zu hören?????? Aber dann, nochmals der gleiche Ruf! Im Dunkeln erkenne ich jemand unten auf der Straße, - aber wen??? Endlich begreife ich, -- erkenne die Stimme, -- die vier Treppen sause ich zum Empfang auf die Straße hinunter! Es ist nicht zu fassen !

Endlich ist Erika zurück!!!!!!!

Nach mehr als vier Jahren!

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Es werden zwei freudenvolle Tage bei mir, ehe ich Erika am Zug verabschiede, der sie zu ihrer Familie bringen soll !

               

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Flucht und Rettung über die Ostsee

von Christel B., geb. K., aufgeschrieben im August 1983

Am 17. Mai 1937 habe ich in Schwerinshöhe, - das zu dieser Zeit noch Wendisch-Silkow hieß -, geheiratet. Nach der Hochzeit sind wir gleich nach Budwo, im Süden des Kreises Stolp, gezogen, wo wir bis kurz vor Ende des Krieges lebten.

Anfang März 1945 hörten wir in Budow schon von fern den Geschützdonner näher kommen und konnten abends den Feuerschein brennender Häuser am Himmel sehen. Auch gab es in unserem Dorf viel Unruhe, da hochbeladene Flüchtlingstrecks nach Westen oder Norden durch den Ort zogen. In umgekehrter Richtung fuhren unsere Soldaten mit ihren Fahrzeugen in die Bütower Gegend.

Obwohl es noch keine klaren Anweisungen gab, packten die Leute ihre wichtigsten Sachen und bereiteten in den Scheunen ihre Treckwagen vor. Mein Mann war zu dieser Zeit als Soldat an der Eismeer-Küste im hohen Norden. So packte ich allein die notwendigsten Sachen für mich und meine beiden Kinder, die damals erst fünf und sieben Jahre alt waren, zusammen. Aber jeder mußte auch weiterhin seiner Arbeit nachgehen, wie immer. Manche meinten auch, es werde nicht so schlimm kommen und unsere Soldaten würden die Russen schon wieder zurücktreiben. Am 8. März wurde die Lage aber so gefährlich, daß wir unseren Ort verlassen mußten. Der Feind stand nur noch 4 km vor Budow! Wir konnten es kaum glauben, daß wir nun fort sollten, zumal die Sonne schien und es ein so schöner Wintertag war.

Um 14 Uhr standen die Treckwagen beladen zur Abfahrt bereit. Da hörten wir auch schon die Schießerei ganz in der Nähe, sahen Feuerbrände und merkten in der klaren Winterluft den Brandgeruch. Die Straßen waren durch Schneeglätte und vereiste Stellen nur langsam und vorsichtig zu befahren. Zur Schonung der Pferde mußten wir zu Fuß gehen, erst am Abend durften wenigstens meine Kinder aufsitzen, weil sie kaum noch laufen konnten.

Wir hatten schon nach 4 km die feste Straße verlassen müssen, da das die Wehrmacht verlangte. Nachdem waren wir über ungeräumte Feldwege gefahren, die an manchen Stellen tief verschneit waren und zum Teil auch stark verweht waren, aber jeder dachte, “nur weg von der näher kommenden Front, weg von Schießerei, weg von den Russen”. Manchmal hängten wir uns gegenseitig ein, um weiterzukommen und uns nicht zu verlieren.

Gegen 18 Uhr trafen wir auf eine Verpflegungskolonne, die uns etwas Warmes zu trinken anbot, die Kinder bekamen sogar etwas zu essen. Aber an eine richtige Rast oder gar Übernachtung war nicht zu denken.

Die Wagenkolonne fuhr weiter über Nebenwege, und wir Erwachsenen liefen zu Fuß, so gut es eben ging. Endlich gegen 2 Uhr in der Nacht kamen wir in dem Dorf Jerskewitz an. Pferde und Menschen konnten nicht mehr weiter, die Kinder weinten, wir waren nun 12 Stunden unterwegs! Jeder suchte sich so gut es ging einen Platz in einem Haus oder einer Scheune, und legte sich todmüde zum Schlafen hin.

Gegen 7 Uhr früh wurden wir aufgeregt geweckt, da man schon wieder die Front näher kommen hörte. Aber auch an diesem Tag, es war der 9. März, durften wir nicht die festen Straßen benutzen, wieder ging es über Felder und durch verschneite Wälder. Nur langsam kamen wir vorwärts, denn immer wieder gab es Unglücksfälle, - ach, ich kann hier nicht alles schildern ....! Alles war so traurig und trostlos!

In der Nacht gegen 3 Uhr kamen wir in einen Ort, es war Wutzkow, an der Straße von Bütow nach Lauenburg gelegen. Jeder suchte sich wieder ein Quartier. Ich fand mit meinen beiden Kindern einen Platz in einem Stall, wo Kälber und Schweine vor Hunger die ganze Nacht brüllten und schrien. Da konnte von Nachtruhe keine Rede sein, aber wir waren doch froh, wenigstens im Warmen liegen zu können.

Als wir vor Übermüdung gegen Morgen endlich eingeschlafen waren, gab es schon wieder Alarm. Es muß wohl so gegen 6 Uhr gewesen sein, als die Russen in das Dorf schossen. Schnell griff ich meine Sachen und rannte mit den Kindern zu der Straße, wo ich viele Wehrmachtautos sah. Aber teilweise waren sie schon kaputt oder verlassen. Schließlich entdeckten wir einen fahrtüchtigen Laster, wurden von hilfsbereiten Soldaten heraufgezogen und brausten aus dem Dorf, während hinter uns bereits die Granaten einschlugen.

Wir kamen zunächst mit unserem Lastauto ein gutes Stück vorwärts, - immer in Richtung Danziger Buch, wo wir hofften irgendein Schiff zu erreichen. Leider mußten die Soldaten gegen 3 Uhr von der Hauptstraße abbiegen, um nach einem anderen Einsatzort zu fahren. Wir mußten also absteigen, hielten uns aber in der Nähe einer vielbefahrenen Straßenkreuzung auf, auf der ein Offizier den Verkehr regelte.

Kälte und Hunger setzten uns sehr zu. Besonders meine kleine Tochter, die vorher sehr, sehr krank gewesen war, fror erbärmlich und weinte ständig. Fast vier Stunden haben wir so gewartet.

Endlich erbarmte sich ein junger Leutnant, der jetzt den Verkehr auf der Kreuzung regelte und hielt für uns ein Fahrzeug an, das in die gewünschte Richtung nach Gotenhafen fahren sollte. Mit diesem Fahrzeug kamen wir endlich gegen 2 Uhr nachts bei anhaltendem Schneegestöber in dem kleinen Ort Rahmel, kurz vor Gotenhafen an, wo wir Unterkunft in einem  Flüchtlingslager fanden. Übermüdet und hungrig schliefen wir auf unserem Strohlager ein. Hier, in der Nähe der Hafenstadt gab es Tag und Nacht Bombenangriffe und unsere Flak schoß zurück. In unserer Unterkunft gab es keine heile Fensterscheibe mehr, es schneite herein, und die Kälte kroch in alle Ecken. Wir Flüchtlinge kauerten auf dem Fußboden im naßen Stroh --- und dabei keine Aussicht auf ein Weiterkommen! Es waren die schlimmsten Tage!

Mehrere Tage mußten wir hier aushalten, bis wir endlich von einer bespannten Munitionskolonne nach Gotenhafen mitgenommen wurden. Diese Fahrt war sehr gefährlich, da wir laufend von russischen Flugzeugen angegriffen wurden. Manchmal standen Bekannte am Straßenrand, die uns zuriefen: “Nehmt uns doch mit”, aber die Fahrzeuge waren ja schon überladen, und weder die Soldaten noch wir konnten ihnen helfen. Es erscheint mir noch heute wie ein Wunder, daß wir an diesem Tage heil nach Gotenhafen gekommen sind. Die Soldaten setzten uns am Anfang der Hafenstraße ab. Die Kolonne fuhr weiter nach Oliva, das zwischen Gotenhafen und Danzig liegt.

Nun standen wir wieder einmal auf der Straße und wußten nicht wohin! Da erschien, - wie ein Engel - , eine junge Frau und nahm uns in ihre Wohnung mit. Es war eine Matrosenfrau, die noch am selben Abend mit einem Schiff abreisen sollte. Wir durften alles in ihrer Wohnung benützen und auch alles aufessen, was an Eßbarem vorhanden war.

Auch hier vergingen wieder einige Tage, bis eine fürchterliche Schießerei begann, die einen ganzen Tag anhielt. In Gedanken sah ich schon die Russen über den Berg kommen. Nachts schliefen wir sicherheitshalber in einem Luftschutzkeller, wo sich noch einige andere Familien aus unserem Dorf eingefunden hatten.

Unsere Gespräche und Gedanken drehten sich Tag und Nacht um die Frage, ob und wann wir von hier noch mit einem Schiff wegkommen könnten. Die jungen Mädchen erkundeten endlich bei Soldaten und Matrosen, daß noch ein Schiff kommen sollte. Da machten wir uns auf den Weg und fanden schließlich auch ein Haus, in dem ein höherer Kommandostab saß. Als uns der Wachtposten hereingelassen hatte, sahen wir viele Offiziere vor großen Karten, Tischen mit Telefonen und Funkgeräten. Wir trugen unser Anliegen vor und wurden von einem freundlichen Oberst in die Schreibstube verwiesen, wo man unsere Personalien aufnahm und uns erklärte, daß es am nächsten Tag losgehen sollte.

Tatsächlich stand am nächsten Morgen ein Gefreiter an meinem Bett und verkündete: “Gegen 8 Uhr läuft die ‘Vale’ - so hieß dieses Schiff - aus.” Das wenige Gepäck nahm gleich ein Wehrmachtsauto mit, und wir liefen so schnell wir konnten aus dem Luftschutzkeller. Dabei bemühten wir uns möglichst leise zu sein, um die anderen nicht in Aufregung zu versetzen. Manche warteten schon 5 oder gar 6 Wochen und hatten noch keine Schiffskarten.

Als wir abgehetzt am Kai ankamen, sahen wir schon 500 bis 600 Menschen dicht gedrängt dort stehen, die noch nicht an Bord durften. Das Gepäck wurde aber verladen. Etwa nach 1 1/2 Stunden erschien ein stark angetrunkener Feldwebel und rief immer wieder: “Frauen und Kinder geht nach Hause, das Schiff läuft heute nicht mehr aus!” Daraufhin verzogen sich die Leute in die umliegenden Häuser und Luftschutzkeller, auch wir gingen wieder weg. Aber was sollten wir ohne unsere Habseligkeiten, Decken und etwas Verpflegung machen? Also bat ich die Matrosen unser Gepäck wieder herauszuholen.

Seit Tagen plagte mich eine Angina, jetzt nach dieser Enttäuschung war ich völlig erschöpft und legte mich erst mal in’s Bett.

Gegen 13 Uhr hatte ich, - wie schon oft während der Flucht - eine Vorahnung und schickte die jungen Mädchen, die mit uns auf das Schiff warteten zum Hafenkai. Sie kamen im Galopp zurück und riefen ganz atemlos: “Schnell, das Schiff läuft aus!” Es war ein ziemlich weiter Weg, eine große Anstrengung in meinem Krankheitszustand, aber ich schaffte es mit meinen Kindern bis zum Kai. Da sah ich, daß die Matrosen unser Gepäck schon ausgeladen hatten, - also jetzt die Sachen wieder aufs Schiff, und uns half man heraufklettern. Es dauerte dann noch 1/2 Stunde bis das Schiff ablegte. Ein rechtes Vorwärtskommen war es nicht, da das Schiff immer wieder vor Anker ging oder sogar rückwärts fuhr, - die Matrosen sprachen von Minenfeldern. Einmal fielen Bomben dicht neben dem Schiff, und wir lagen unbeweglich fest in der Danziger Bucht. Es war eine gefährliche und abenteuerliche Fahrt, die jetzt begonnen hatte. Wir sollten Schwimmwesten tragen, was auch die meisten Leute befolgten. Aber ich habe mit meinen Kindern keine Schwimmwesten getragen, ich dachte, wenn jetzt das Ende kommen soll, dann soll auch schnell alles vorbei sein.

Wir brauchten den ganzen Nachmittag, um aus der Danziger Bucht herauszukommen, erst gegen Abend kamen wir bei der Spitze der Halbinsel Hela an. Hier kamen noch einmal besonders schlimme Stunden. Es gab Fliegeralarm, Bomben fielen, und die Matrosen rannten zu ihren Flakgeschützen und feuerten ununterbrochen! Oben hörte man das Brummen der Flugzeuge. Alle Flüchtlinge mußten unter Deck und durften während der Schießerei nicht nach oben kommen. Aber ich hielt es unten in dem Gedränge und Gestank nicht lange aus und schlich mich an Deck und versteckte mich hinter einem Mast. Irgendwie war ich sogar neugierig und wollte etwas von dem Feuerwerk sehen.

Besonders über Gotenhafen sah es schlimm aus und die Matrosen meinten auch, daß der Hafen heute seine “Feuertaufe” hätte. Nur gut, daß wir da noch rechtzeitig herausgekommen waren!

Erst nach vielen Stunden wurde es ruhiger, aber noch lagen wir vor Anker.

Endlich setzte sich das Schiff nach Westen in Bewegung! Normalerweise dauerte im Frieden eine Fahrt mit dem “Seedienst Ostpreußen” von Zoppot nach Stettin 9 Stunden, unsere Fahrt entlang der Pommerschen Ostseeküste sollte 5 Tage dauern. Es war noch ein Glück, daß die Ostsee im allgemeinen sehr ruhig war, auch schien eine warme Frühlingssonne auf die blaue See, und wir durften An Deck, - auch das Essen war gut und reichlich. Zwischendurch gab es aber auch Alarme, wenn Flugzeuge gesichtet wurden oder russische U-Boote in die Nähe kamen. Einmal hieß es, es seien Torpedos vorbeigezischt. Das Schiff fuhr oft sehr langsam, da es viele Minenfelder gab.

Als wir an Leba, Rowe und Stolpmünde vorbei fuhren, konnten wir die Dünen, Wälder und Häuser gut erkennen. Wie oft hatten wir hier früher fröhliche Stunden verbracht! Ob wir das Alles wohl je wiedersehen würden?

Wir sahen auch viele Schiffswracks, aber von dem großen Unglück der “Wilhelm Gustloff” konnten wir damals noch nichts wissen.

Nach Tagen kamen wir in das Stettiner Haff bis vor den kleinen Hafen Ückermünde. Da unser Schiff zu groß war, durften wir nicht einlaufen und lagen 2 volle Tage auf Reede fest.

Inzwischen war auf unserem Schiff Typhus und Diphtherie ausgebrochen. Die Erkrankten wurden isoliert, zuerst ausgeladen und in Quarantäne gebracht. Dabei kam es immer wieder zu herzzerreißenden Szenen, wenn Kinder von ihren Müttern getrennt werden mußten, oder Familien auseinandergerissen wurden.

Das Aussteigen auf hoher See war nicht so einfach. Ein kleines Schiff mit dem Namen ‘URUNDI’ war längsseits gekommen und tanzte auf den Wellen auf und ab. Wir mußten an Strickleitern herunterklettern und den richtigen Moment abpassen, um auf die ‘URUNDI’ herüberzuspringen. Kleine Kinder wurden von Matrosen herübergetragen, älteren Leuten wurde geholfen.

Zunächst wurden wir in Ückermünde in der Nähe des Bahnhofes untergebracht. Bald machte sich wieder neue Unruhe bemerkbar und es hieß, daß wir mit der Bahn weiter nach dem Westen sollten. Es standen auch genug Güterwagen auf den Geleisen herum, aber es gab keine Lokomotive. Wir stiegen in einen Waggon ein, aber niemand konnte uns sagen, wann es losgehen sollte. Als wir aber merkten, daß die anderen Flüchtlinge, die wohl schon länger als wir unterwegs waren, von Läusen befallen waren, sah ich mich nach einem Quartier in der Nähe um, fand nette, freundliche Leute, wo wir uns gründlich waschen konnten. Wir durften sogar dort schlafen. Natürlich hielten wir Kontakt zu den Güterwagen, um eine Abfahrt nicht zu verpassen. Endlich, nach mehreren Tagen hörten wir eine Lokomotive kommen. Alles rannte zum Bahnhof und nach einigem hin und her setzte sich der lange Güterzug rückartig in Bewegung. Man sagte uns, daß es in Richtung Rostock und dann weiter nach Westen gehen sollte. Bei einem Aufenthalt auf irgend einem verdunkelten Bahnhof gab es etwas Warmes zu essen. Alle freuten sich und holten sich mit Töpfen und Schüsseln die Milchsuppe, in der viele Nudeln schwammen. Aber der Koch muß wohl sehr verliebt gewesen sein, denn die Suppe war total versalzen und kaum genießbar.

Weiter ging die Reise mit vielen Fliegeralarmen und Unterbrechungen, bis wir schließlich eines Tages in Celle ausgeladen wurden. Hier kamen wir zunächst in der Nähe des Bahnhofes in einer Kirche unter. Zwei Nächte konnten wir bei einer sehr netten Familie schlafen, durften uns gründlich waschen und wurden auch gut bewirtet. Am 3. Tag wurden wir nach Hermannsburg weitergeleitet, wo wir uns allmählich einlebten und eine neue Heimat fanden. Mein Mann kam am 2. Januar 1948 aus der Gefangenschaft nach Hause. Da er bei der Kapitulation nicht angeben konnte, wo seine Familie wohnte, hatte man ihn von Norwegen im September 1945 nach Frankreich in ein Gefangenenlager gebracht. Verwundet war er nicht, aber es dauerte lange, bis er sich von Zwangsarbeit, Unterernährung und Hunger erholen konnte.

1956 haben wir gebaut und konnten dankbar feststellen, daß es uns wieder gut ging.

Leider ist mein lieber Mann im Jahre 1972 verstorben.   

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Letzte Tage in Schwerinshöhe (Wendisch-Silkow)

Im Oktober 1944 wurde die Schule geschlossen und wir hatten keinen Unterricht mehr, ich war damals 13 Jahre alt. Der Grund war, dass aus Ostpreußen lange Trecks auf der Chaussee von Gutzmerow her durch unser Dorf nach Westen zogen. In der Schule und in Bonins Gasthof wurden Strohlager eingerichtet. Außerdem mußte jede Familie ein Zimmer für durchreisende Flüchtlinge freimachen, damit die Leute, meist nur für eine Nacht, Unterkunft fanden. Abends bekamen sie ein warmes Essen aus der Gulaschkanone. Eintopf mit Erbsen und Linsen. Auch die Pferde wurden ausgespannt und im Warmen untergestellt. Dafür mußten wir unser Untertor freimachen und die Maschinen und Wagen herausnehmen, die sonst über Winter dort untergestellt waren. Oft stellte unsere Mama einen Eimer Milch zur Verfügung, dann waren die Flüchtlinge glücklich und dankbar dafür, dass sie ihren Kindern eine warme Milchsuppe kochen konnten.

Einmal hatten wir eine Familie aus Tilsit. Die Oma bat uns zunächst immer wieder um ein “Keuchelchen”. Wir verstanden zunächst nicht, was sie eigentlich meinte, bis wir schließlich herausbekamen, dass die ein Hähnchen meinte. Sie wären schon so lange unterwegs und ihr Enkelkind wollte so gerne mal ein Hähnchen haben, aber bisher hätten sie noch keines gehabt. Na, die Mama hat gleich einen Hahn geschlachtet, um diese Zeit hatten wir keine jungen Hähnchen mehr. Die alte Frau war überglücklich und schenkte uns aus Dankbarkeit einen ganzen Zentner Zucker. Wie sie sagte, hatten sie in Tilsit ein großes Geschäft gehabt und mehrere Sack Zucker auf dem Wagen mitgenommen. So viel! - Für ein Hähnchen - aber wir waren auch überglücklich, denn Zucker wurde uns schon lange Zeit nur auf Marken zugeteilt.

Die Flüchtlingstrecks zogen den ganzen Winter durch unser Dorf. Die Leiterwagen waren mit Teppichen ausgelegt und Teppiche bildeten auch die Plane, als Schutz gegen Wind und Wetter.

Unsere Schule blieb geschlossen und so hatten wir keinen Unterricht mehr von Oktober 1944 bis zu unserer Vertreibung 1947. Einige Schwerinshöher wären gern mitgetreckt, aber das war streng verboten und so mußten wir bleiben bis der Russe am 9. März kam. Am Tage vorher wurde noch die Lupowbrücke bei Wummels Mühle von deutschen Soldaten gesprengt. Schon lange vorher wurden von Frauen und Männern, die noch zu Hause waren, im Waldstück an der Lupow Zick-Zackgräben ausgehoben, für die Verteidigung durch unseren Volkssturm. Die Gräben fingen bei Bernd an und zogen sich durch den sogenannten Holm. Die Brücke war aber so schlecht gesprengt, dass eigentlich nur in der Mitte ein großes Loch war und sonst auch kein großes Hindernis für die russischen Panzer und Fahrzeuge war. Auch die Gräben wurden überhaupt nicht verteidigt.

Unsere Wagen standen schon vorher gepackt da, meine Mutter bestand darauf, dass drei Sack Hafer bei der Ladung waren für unsere Pferde. Unser Vater war zu dieser Zeit schon in russischer Gefangenschaft. Mit uns mußten wir für unsere Großeltern sorgen. Großvater war schon 68 Jahre alt und litt an Rheuma, dazu Großmutter, meine Mutter und wir drei Kinder.

Am 9. März wurden wir von dem Bürgermeister Haus für Haus alarmiert, wir sollten das Dorf sofort räumen; denn bald wäre der Russe da. Wir also die Pferde angespannt, mein Großvater war durch sein Rheuma halb gelähmt und wollte gar nicht mit. “Laßt mich hier”, sagte er immer wieder, “wenn mich die Russen erschießen, sterbe ich wenigstens auf meinem eigenen Grund und Boden.” Wir mußten ihn mit Gewalt mitnehmen und fuhren in Richtung kleines Moor in denWald, aber die Russen entdeckten uns natürlich doch und fingen an auf uns zu schießen. Vielleicht dachten sie aus der Ferne, bei uns seien auch deutsche Soldaten. Nach kurzer Beratung unter den alten Männern wurde ein weißes Bettlaken herausgeholt und ein Mutiger steig auf einen Baum und hing die weiße Fahne auf, ich glaube, es war Eick’s Hermann. Nach kurzer Zeit hörte die Beschießung auf und wir mußten nach einigen Stunden wieder ins Dorf zurück. Wir waren kaum auf dem Hof, da nahmen die Russen uns schon die Pferde weg, wir hatten nicht einmal Zeit zum Ausspannen um die Pferde in den Stall zu bringen.

Dann fingen die Russen an zu trinken und zu essen. Bald war unser Speck und das Eingemachte aufgegessen, dabei wurde immer Wodka getrunken. Sie gingen betrunken und johlend in den Stall und schlugen den Hühnern die Köpfe ab, sogar den Gänsen, die auf den Eiern saßen und brüteten wurden die Köpfe abgehackt. Im Schweinestall hatten wir sechs Jungschweine so 1,20 lang, 1 1/2 Zentner schwer, sie ließen sie auf den Hof und stachen mit ihren Säbeln auf die Schweine ein, bis sie verblutet tot umfielen. Wir Kinder weinten und schrien als wir das alles ansehen mußten und zitterten vor Angst. An diesem Tage wurde auch das Haus vom Landjäger an der Chaussee angesteckt. Sonst kann ich mich nicht an Brände im Dorf erinnern. Frau Eick im Ausbau wurde von einem Russen erschossen. Er wollte die Tochter vergewaltigen, als sich die Mutter dazwischen stellte, hat er sie erschossen und die Tochter neben der Leiche vergewaltigt.

Auf dem großen Felde an der Chaussee mußten eines Tages im April alle Dorfbewohner antreten, da wurden gesunde Leute zum Arbeiten ausgesucht und abtransportiert. Manche sind wiedergekommen, viele kamen nicht zurück. Auch meine Cousine Erna aus Gutzmerow ist nicht wiedergekommen. Zwei andere Cousinen hatten Glück, sie konnten von Graudenz aus wieder zurücklaufen. Manche mußten nur nach Stolp zum Arbeiten und kamen auch wieder.

Der Bruder meiner Mutter, Onkel Rudolf ist zusammen mit Ruth Manzek’s Vater bis nach Mecklenburg gekommen, dort ist Herr Manzek verstorben und beerdigt. Kurz vor seinem Tod hat er meinen Onkel Rudolf noch gebeten, die Angehörigen zu benachrichtigen. Mein Onkel hat ihn dort beerdigt und seinen Namen und die Adresse in eine Flasche eingeschlossen und mit vergraben. Kürzlich bei einem Pommerntreffen habe ich Ruth gefragt, ob sie überhaupt weiß wo ihr Vater begraben liegt? Ruth hat mir mit Tränen in den Augen erzählt, dass sie die Flasche bekommen hätten und nun wüßten sie endlich wie das alles zusammenhängt.

Das ging so mehrere Wochen lang, bis im Mai nach der Kapitulation eine russische Kommandantur kam. In Lüdtkes Gärtnerei war ein guter Russe mit Namen Alexander. Er konnte deutsch sprechen und stammte aus Weißrußland. Jedenfalls war er deutschfreundlich. Wir habe bei ihm in der Gärtnerei gearbeitet, ich erinnere mich noch an Edwin Zühlke, Hermann Eick und Erna Marzenke, die mit mir in dieser Zeit zusammen arbeiten mußten. Pro Monat bekamen wir dafür 1/4 Zentner Mehl, das war in der damaligen Zeit viel wert. Als Frau Lüdtke krank war, habe ich sie versorgt und auch für sie gekocht. In dieser Zeit wurden alle Kühe abgeholt und weggetrieben.

Im August 1945 kamen zu uns auf den Hof Polen. Er hieß Kasimir und sie Regina, ein ganz junges Ehepaar. Sie beschlagnahmten gleich alles, auch Schlafzimmer und Küche. Wir sechs Personen, die Großeltern, meine Mutter und wir drei Kinder wurden in ein Zimmer zusammengepfercht. Da dort keine sechs Betten aufzustellen waren, mußten wir immer zu zweit in einem Bett schlafen. Weil der Kommandant Alexander gesagt hatte “Wenn was los ist, dann kommt gleich zu mir”, schickten wir unsere kleine Schwester zu ihm und meldeten, dass uns die Polen alles weggenommen hatten. Alexander kam mit seinem Gewehr auf den Hof, so konnten wir wenigstens das Notwendigste, z.B. Betten, aus unserer Wohnung mitnehmen. Die Polen kochten vor Wut, mußten es aber dulden.

Meine Mutter mußte jede Woche acht Brote backen, davon bekamen wir sechs Personen nur zwei Stück ab, die anderen nahmen die Polen für sich. Das brauchten sie wohl auch, denn jeden Abend feierten sie laut und lange mit anderen zugezogenen Polen aus dem Ort. Dabei wurde gegessen und getrunken, oft die halbe Nacht hindurch. Kartoffeln hatten wir noch genug, das war unsere Rettung. Fleisch, Milch und Fett haben wir fast zwei Jahre lang nicht gesehen. Wir Kinder erbettelten uns ab und zu eine Scheibe Brot mit etwas Schmalz darauf bei der Polin, aber für die Mutter durften wir nichts mitnehmen.

Ganz schlimm war Weihnachten 1945, wir waren ärmer als arm. Nichts zu essen, keine Milch. Zum Fest haben wir versucht, aus Kartoffeln und Rüben so etwa einen Kuchen zu backen, aber er war so hart, dass wir ihn kaum essen konnten. Das ganze Jahr 1946 mußten wir für die Polen hart arbeiten, ganz umsonst. Einmal mußte unsere Mutter, die damals schon 38 Jahre alt war, an einem Tag acht Fuhren Mist laden. Der Pole fuhr nur hin und her, dabei war er ein junger Mann von 25 Jahren! Da ging ich zu ihm uns sagte: “Schämst du dich nicht Kasimir? Du junger Mann kannst mal laden. Meine Mutter hat drei Kinder, was wird, wenn sie tot ist?” Da hat er mal zwei Fuhren geladen und ich bin mit den Pferden und der Mutter gemütlich zum Feld gefahren und habe den Wagen langsam abgeladen. Aber nach zwei Fuhren war es dem Polen schon zu viel und ihm lief das Wasser durch die schmierigen langen Haare.

Im Mai 1946 kam endlich eine Rote-Kreuz-Karte aus der russischen Gefangenschaft von meinem Vater. Es standen nur wenige Worte drauf, aber wir wußten nun, dass Vater noch lebte. Das war die einzige Karte, die wir erhalten haben. Dabei hatte Vater schon vorher viele Karten geschrieben, wie wir später erfahren haben. Mit dieser Karte ging ich zu den Polen, hielt sie ihnen unter die Nase und sagte: “Vater lebt, Chef kommt bald zurück.” Von Stund an waren unsere Polen wie umgedreht. Sie hatten Angst vor dem “Chef”, wie wir jetzt immer sagten. “Chef kommt bald und wenn das der Chef sieht“, usw. Die Polen, die uns bis jetzt hatten fast verhungern lassen, gaben uns nun Milch, Eier und andere Lebensmittel ab, um uns gut zu stimmen.

Auf einmal tauchte das Gerücht auf, dass die Deutschen hinter die Oder sollten. Genaues erfuhr man nicht, aber die Mutter fing an aus Handtüchern und Bettlaken für uns alle Rcksäcke zu nähen. Es hieß, dass man nur das mitnehmen konnte, was man selbst tragen kann. Es hieß auch, dass zunächst unnütze Esser, Alte, Schwache und Kinder ausgewiesen würden, gesunde Arbeitskräfte sollten da bleiben. N, wir waren ja alle, bis auf meine Mutter und mich halbe Portion für die Polen, nur unnütze Esser. So rechneten wir mit einer baldigen Ausweisung. Es sprach sich herum, dass in solchen Fällen die Miliz morgens an die Türen donnerte und man innerhalb weniger Minuten das Haus verlassen mußte. So saßen wir immer auf unseren gepackten Rucksäcken marschbereit.

Am 3. Januar 1947 früh, kurz vor 6 Uhr, klopften die Milizsoldaten wie wild an unsere Fenster und brüllten: “Transport hinter Oder!” Sie ließen uns nur ganz kurze Zeit, ich half der kleinen Schwester anzuziehen, Mutter half dem Opa, der vor Schreck, Kälte und Rheuma ganz steif war und überhaupt nicht mit wollte. “Ich bleibe hier, laßt mich, und wenn sie mich erschießen.” Aber wir überredeten ihn und halfen beim Anziehen. Dann mußten wir auf die Straße, wo vier oder fünf Leiterwagen standen. Alte Leute, auch unser Opa wurden gefahren, auch Kleinkinder. Alle anderen sollten laufen. Draußen herrschte große Kälte; denn es war ja Januar.

Der Weg ging über Gutzmerow nach Groß-Garde. Als wir zum Dorf hinausfuhren, so an dem Haus Grulich haben wir Mädels gesagt: “Wir weinen nicht, wir werden singen.” Und laut haben wir gesungen: “Nun ade du mein lieb Heimatland,” und andere Lieder, bis wir nach Gutzmerow kamen. In Gutzmerow lief ich zu meiner Tante Anna und sagte ihr, sie solle schnell zur Straße kommen, wenn sie ihren Vater noch einmal sehen wolle. Sie kam auch angelaufen und verabschiedete sich unter Tränen von uns. Lange Zeit ließen uns die Polen nicht, dann ging es weiter nach Groß-Garde und von dort auf Lastwagen nach Stolp.

Unterwegs wurden wir immer wieder bestohlen und gefilzt. Frau Hobro z.B. konnte keinen Rucksack tragen und hatte sich zwei Koffer gepackt, die sie kaum tragen konnte. In Stolp sprach sie ein junger Pole an, ob er ihr behilflich sein könne. “Aber das ist aber nett, mein lieber Junge!” Kaum hatte der Pole die Koffer in der Hand, verschwand er mit langen Sätzen um die Ecke und ward nicht mehr gesehen. Natürlich wußten die Polen auch, dass jeder seine wichtigsten Wertsachen mitnehmen wollte und nun stahlen sie uns die letzten Habseligkeiten. In Stolp mußten wir zwei Nächte im Lager verbringen, dann sollten wir mit je 35 Mann in einen Viehwaggon. Es war sehr kalt und nur, wenn kleine Kinder und sehr alte Leute dabei waren, wurden wir auf einen Güterwagen mit einem kleinen Ofen eingeteilt. Für unseren kranken Opa besorgten wir wenigstens etwas Heu, aber er sagte immer wieder zu uns, dass er nicht warm werde. Es war eine elende Fahrt mit vielen Unterbrechungen bis wir schließlich nach Posen kamen.

Nach langem Herumstehen auf dem Güterbahnhof ging es dann wieder weiter. Unterwegs, wenn der Zug hielt, versuchten immer wieder die Polen in die Waggons zum Plündern zu kommen. Aber unsere Männer hatten sich einige Bauklammern besorgt und schlugen diese von innen über den Türspalt, sodass man die Türen von außen nicht so leicht aufschieben konnte. Es hieß, dass immer ein Transport in die Westzone und ein Transport in die Ostzone rollen sollte. Wir kamen in die Ostzone. Unsere Fahrt dauerte bei eisiger Kälte 11 Tage. Wir hatten in unserem Waggon eine Eisschicht von 10 cm an den Wänden, die von unserer Atemluft angefroren war. Ab und an, wenn der Zug länger hielt, versuchten wir uns Holz zu besorgen. Wir nahmen was wir fanden, mal Holzknüppel, mal Zaunlatten, die wir über dem Knie zu Kleinholz machten. Manche überstanden die Reise nicht mehr und wurden tot neben die Gleise geworfen. Mal gab’s was zu essen, mal gab’s überhaupt nichts.

Schließlich landeten wir in Annaberg im Erzgebirge, wo wir zunächst drei Wochen in ein Quarantäne-Lager kamen. Wir Kinder sind immer an den Zaun gelaufen und konntenmit den Ortsbewohnern sprechen. Eine gute Frau brachte uns ab und an ein Stück Brot, einmal auch eine Grießsuppe. Wir rannten gleich zu unserem Opa, der schwer krank war und gaben ihm die Suppe. Als es mit dem Großvater immer schlimmer wurde, brachte ihn die Krankenschwester in ein Extra-Zimmer, sie nannten das Isolierstation und niemand sollte ihn besuchen. Aber meine Großmutter ließ sich das nicht gefallen und besuchte den Opa. Da hatten die ihn doch in ein eiskaltes Zimmer geschoben - das reinste Sterbezimmer, wo er nach einigen Tagen gestorben ist. Meine Oma deckte ihn mit einer mitgebrachten Tischdecke ab, wie es bei uns zu Hause üblich war.

Nun mußten wir aber ausgerechnet am Tag der Beerdigung mit einem Transport weiter. Wir durften den Opa nicht mehr beerdigen! Das hat unsere Oma nicht überlebt. Kurz vor dem Abtransport ging unsere Mutter noch eimal in das Sterbezimmer und beobachtete, dass die zuständige Frau schon von den anderen Leichen die Decken an sich genommen hatte. Da nahm sie unsere Decke lieber wieder mit. Bei der Frau hat man in der Wohnung viele Decken und andere Sachen von Flüchtlingen gefunden. Ob sie ihre Strafe bekommen hat weiß ich nicht.

Wir kamen mit unserem Transport nach Delitzsch in der Provinz Sachsen. Wurden dann von den Bauern abgeholt und mit Treckern in alle Himmelsrichtungen aufs Land verteilt.

Aus der Erinnerung aufgezeichnet im Jahre 1985 von Dorchen Y.

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Der lange Weg - aufgeschrieben im Herbst 1984 von Ursula X.

Ich will versuchen, schon längst Vergangenes wieder aufleben zu lassen.

In der Erinnerung sieht doch so manche Begebenheit freundlicher aus als zu dem Zeitpunkt des wirklichen Erlebens. Auch erscheint manches nach längerem Zeitablauf in einem versöhnlicheren Licht.

So jedenfalls ergeht es mir, wenn ich mir jetzt nach Jahren die Monate Januar bis Oktober 1945 vergegenwärtige. Rückblickend kommt nachträglich irgendwie eine gewisse Dankbarkeit auf über all das Zustandekommen, den Verlauf und den Ausgang des ganzen Geschehens, das uns damals widerfuhr.

Als sich Anfang 1945 Unruhe und Ungewißheit durch unklare Nachrichten über den Stand des Krieges mehr und mehr steigerten, kamen wir drei jüngsten Geschwister überein, im Ernstfall unsere alten Eltern nicht allein zu lassen. Wir wollten zu ihnen nach Hause kommen.

Magda, damals zwanzig Jahre alt, mußte von amtlicher Seite aus gegen Ende Februar ihren Schuldienst im Grenzbezirk Schneidemühl wegen der bedrohlichen Kriegshandlungen beenden und kam, nur mit dem allernotwendigsten Gepäck, nach Hause.

Und auch Elma mit ihren beiden kleinen Kindern kam aus Stolp dazu. So waren wir eine recht große Familie mit all den Ostpreußen-Flüchtlingen, die in unserem Haus herbergten, und harrten der Dinge, die da kommen sollten! - Und sie kamen!

Der 9. März brachte uns die erste Berührung mit feindlichen Truppen, und danach wurden es immer mehr und mehr. Es gingen viel Angst, Not, Tränen und Verzweiflung in uns um; an keinem Tag hatten wir auch nur ein wenig Ruhe.

Im Laufe der folgenden Monte hatte es schwere Arbeit auf dem Gut Hebrondamnitz für uns gegeben:

Ställe ausmisten, Hof und Ställe fegen, Kühe waschen!!! Mist laden.

Als Entgelt dafür gab es überaus karge Zuteilungen an Naturalien, oft aber auch gingen wir leer aus (Protest war nicht gestattet!). Danach

Abmontieren des zweiten Gleises der Eisenbahnlinie Stolp-Danzig auf dem Streckenabschnitt Hebrondamnitz - von Sonnenaufgang bis zum Untergang.

Gleiches wiederholte sich anschließend bei der Stolper Kreisbahn auf der Strecke Zietzen - Kuhnhof - Gabel. Weiterhin wurden wir zu landwirtschaftlichen Arbeiten in unserem Dorf eingesetzt. All das hatten wir bis zum Sommer hinter uns gebracht, meine jüngere Schwester und ich. Wir fragten uns, wie würde es in Zukunft hier wohl weitergehen, wie könnten die Menschen hier überhaupt noch existieren?

Wiederholt hatten wir unser Haus räumen müssen und danach wieder in Ordnung gebracht. Kammer und Keller waren leergeräumt, die Vorräte verbraucht, selbst versteckt gehaltene Waren entwendet worden.  Und doch, es hat auch dann noch Freunde in der Not für uns gegeben, die uns nicht vergessen hatten, sich unser erinnerten. Ich weiß sie alle in liebender Erinnerung! Oft waren es ein Stückchen Brot, ein paar Eier, ein Töpfchen Milch, etwas Speck, Mehl oder Kartoffeln, die in unser Haus gelangten.

Zu all diesen Nöten und der Sorge um das nackte Überleben kam noch die, immer auf der Flucht zu sein vor den durchziehenden Truppen, die nicht nur Heu und Hafer für die Pferde und eine Stärkung für sich selbst wollten, sondern auch Frauen und junge Mädchen suchten! Wie oft war uns da die naheliegende Kiefernschonung hinter unserem Haus zur Zuflucht geworden!

Es gab hier keine heile Welt mehr (so schien es uns), und es würde hier auch keine mehr für uns geben.

Die Tage wurden immer trüber; wir stellten Überlegungen an, wir machten Pläne. Aber wohin sollten wir gehen? Wir hatten keine Verwandten im Westen, and die wir uns hätten wenden können. Schließlich ergab sich dann, daß wir uns, Magda und ich, einer Familie aus dem Rheinland anschließen konnten, die zurück in ihre Heimat wollten. Aber wie das vonstatten gehen sollte, ahnten wir alle nicht, bei diesen Verhältnissen!

Es war ein schmerzliches Abschiednehmen an jenem Morgen, den 19. Juni 1945! Vorher waren wir noch zu einer kurzen Andacht versammelt und Vater übergab uns als letztes ein Neues Testament mit auf den Weg. Ja, es war ein wahres “Losreißen” von zu Haus! Mit einem winzigen Gepäckstück auf dem Rücken (Mutter hatte in aller Eile aus Küchenhandtüchern behelfsmäßig Rucksäcke genäht), einer tiefen Traurigkeit im Herzen und einem unguten Gefühl der Ungewißheit schlichen wir uns davon, und damit begann ein ganz neuer Lebensabschnitt für uns.

Wir trafen, wie verabredet, mit der erwähnten Familie zusammen und bildeten nun eine kleine Gruppe von sieben Personen, darunter fünf Erwachsene, ein zehnjähriger Junge und ein Kleinkind von nicht ganz drei Jahren in einem Kindersportwagen. Das Gepäck lag auf einem kleinen Handwagen. Jetzt war uns zunächst voll bewußt, daß die Straße für uns zum Marschieren bereit lag...

Am Spätnachmittag erreichten wir Stolp, ohne irgendwelche Belästigungen, wohl aber mit mancherlei unklaren Vorstellungen und Erwägungen über unser Vorhaben. Die Familie war recht zuversichtlich, denn ihr Ziel war ja die Heimat, - wir aber ließen die unsrige zurück!

In der Nähe des Bahnhofes fanden wir bei freundlichen Leuten für drei Tage ein Quartier. Der ältere Herr war Musiklehrer, und ich konnte mich errinnern, daß zwei meiner Schwestern vor Jahren hier ihre Geigen- und Lautenstunden hatten. Das nun war ein besonderer Anlaß zu einem längeren Gespräch über vergangene Zeiten.

Nach drei Tagen erreichten wir bei der Kommandantur eine Reisebescheinigung. Dieses Dokument besagte, daß wir spätestens am 3. Juli die Oder-Neiße-Linie passiert haben müßten. Also hatten wir genau noch zehn Tage Zeit, und es erschien uns diese Zeitspanne doch recht großzügig in Anbetracht der 250 Eisenbahnkilometer bis dahin.

Recht erleichtert gingen wir am nächsten Morgen zum Bahnhof und warteten sehnlichst auf einen Zug, mit uns viele Menschen jeden Alters, und wir alle in recht erbärmlicher Aufmachung. Bevor dieser für uns bestimmte Zug am Nachmittag bereitgestellt wurde, kommandierte mich ein junger uniformierter Russe auf Bahnsteig 2, wo ich aus einem unförmigen kupfernen Waschkessel mit einem Hammer den Kesselstein entfernen sollte. Ich gab mir entsprechende Mühe, hatte aber immer unsere Gruppe, die außerhalb der Bahnsteige lagerte, im Auge. Nach etwa 1 1/2 Stunden wurde ich von dieser Order befreit. Vermutlich war das Resultat zufriedenstellend und ich unendlich froh, wieder zu unserer Gruppe gehen zu können.

Bald darauf rollte für uns ein langer Zug ein, der uns bis Köslin brachte. Hier mußten wir in unsaubere, offene Waggons umsteigen und fanden wenig Raum darin, angesichts der Überzahl der vielen Menschen. Von außen wurde alles verriegelt, und weiter ging die Fahrt. Die Riegel wurden erst wieder nach Stunden zurückgeschoben, als es schon dunkle Nacht war. Wir rätselten, wo wir denn nun sein könnten. Schließlich konnte ich ganz sicher erkennen, daß wir auf dem Kolberger Bahnhof gelandet waren. Von meiner Kolberger Zeit her konnte ich mich noch gut an das unverkennbare Bahnhofsgelände erinnern.

Auf einem Nebengleis waren wir abgestellt worden, und sogleich begannen düster dreinschauende Männer eine wüste Plünderung in allen Waggons. Die Gepäckstücke wurden zwischen den Gleisen in Haufen zusammengeworfen und nach gründlicher Durchsicht und entsprechender Sortierung vor unseren Augen angezündet. Es brannte lichterloh und erhellte die dunkle Nacht. Unbeschreibliche Unruhe breitete sich in diesen Stunden unter uns aus.

Auch ich wurde meines kleinen Bündels beraubt, Magdas konnten wir dagegen erstaunlicherweise in dem Durcheinander noch retten. Mein ganzer Besitz war jetzt nur noch, was ich auf dem Leib trug.

In diesem ganzenWirrwarr leuchteten in unsere Dunkelheit plötzlich grelle Taschenlampen auf, und kräftige, lautstarke Matrosenstimmen machten den Jüngsten unter uns verständlich, mitzukommen. Auch Magda nahmen sie mit.

Welche Angst kam in uns auf; kaum den Belästigungen zu Hause entkommen, wiederholte sich hier gleiches.

Nach Stunden, es wurde schon hell, war Magda von der Verschleppung bis zum Hafen wieder zurück. Aber, wie sah ich sie wieder! Ihr Gesicht war vollkommen entstellt. Durch einen Fußtritt war das Nasenbein geknickt und unvorstellbar angeschwollen. Ganze Haarbüschel waren ihr ausgerissen worden, als sie sich zur Wehr gesetzt hatte. All ihr Widerstand gegen dieses Vorhaben hatte nichts genutzt (Gott sei Dank konnte sie später in Hamburg behandelt und ausgeheilt werden). Als “Entschädigung” oder aus “Mitleid”, wer weiß es, hatte man ihr einige Fleischkonserven gegeben, vielleicht auch, um sie versöhnlicher zu stimmen? Diese wurden uns später zu einer guten Mahlzeit, wohl aber mit einem “bitteren” Beigeschmack!

Als es nach dieser bewegten Nacht Morgen geworden war, setzte sich der Zug wieder in Bewegung und hielt dann erst in Belgard. Hier verließen wir den Zug, denn nach den Erfahrungen der letzten Nacht beschlossen wir einstimmig, bis zur Oder keinen Zug mehr zu besteigen; wir wollten, soweit wie möglich, zu Fuß gehen. Ein Quartier war bald gefunden, ebenso ein hilfsbereiter Arzt, den Magda in Anspruch nehmen konnte und somit erste medizinische Hilfe erfuhr. Auf Anraten des Arztes blieben wir zwei Tage dort.

Unsere Marschrichtung, so planten wir, sollte über Köslin - Plathe - Naugard - Gollnow - Altdamm verlaufen, und mit Hilfe von noch anwesenden Einheimischen konnten wir uns orientieren und zurechtfinden, denn auf den Ortsschildern waren die Namen zum größten Teil schon umbenannt.

Täglich gingen wir Strecken, soweit die Füße uns tragen konnten, übernachteten in verlassenen Ortschaften oder fanden auch freundliche Aufnahme ei hier noch verbliebenen Einheimischen oder Treckleuten aus dem Osten. Ach, es war alles so traurig, so trostlos! Zu essen gab es weder allzu viel noch zu oft. Wir organisierten entweder von den naheliegenden Feldern, so es überhaupt möglich war, Mohrrüben und Kartoffeln oder baten in Häusern hin und wieder um eine Gabe und einen Trunk. Das Wetter war uns recht günstig gesonnen, jeden Tag hatten wir Sonnenschein. Wenn auch die Stunden in der Mittagszeit auf den Landstraßen recht unangenehm heiß waren, wäre uns Regenwetter doch weit beschwerlicher geworden.

An einem dieser Tage gelangten wir in ein größeres, langgestrecktes, verlassenes Dorf. Es war so still und öde, als sei nichts Lebendes mehr darin anzutreffen. Plötzlich hörten wir Stimmen rufen. Zunächst glaubten wir, uns drohe wieder irgendeine Gefahr. Aus einem bewaldeten, umzäunten Gelände, nahe der Straße gelegen, konnten wir schließlich deutsche, verständliche Stimmen wahrnehmen, die uns galten. Wir näherten uns der Abgrenzung und erkannten deutsche Kriegsgefangene. Ängstlich winkten sie uns heran, und ebenso ängstlich näherten wir uns ihnen auf Reichweite. Kleine, zusammengerollte Zettelchen mit Anschriften ihrer Angehörigen übergaben sie uns zur Weiterleitung. Wir versprachen, es zu tun und konnten, wenn auch erst viel später, die Angehörigen benachrichtigen.

Erfreulicherweise fanden wir am selben Tag gegen Abend, es war auf der Strecke zwischen Naugard und Gollnow, in einem weiteren Dorf ein verhältnismäßig ordentliches Unterkommen bei einem äußerst hilfsbereiten Ehepaar. Wie wohl taten uns die bereitgestellten Waschschüsseln, die warme Suppe und das saubere Federbett! Und als in der Nacht “Störenfriede” an die Tür klopften, konnten sie durch den resoluten Mann tatsächlich verscheucht werden.

Der nächste Morgen aber brachte für mich eine unangenehme Überraschung: meine rechte Hüfte machte nicht mehr mit, ich konnte mich vor Schmerzen kaum von der Stelle bewegen. Aber auch hier wußten unsere lieben Gastgeber Rat. Irgendwo stöberten sie ein altes Fahrrad auf, wohlgemerkt, ohne Mantel und Schlauch an beiden Rädern. Wie konnte es auch anders ein, denn ordnungsgemäße Fahrräder waren ja schon lange Mangelware. Einerseits diente mir dieses Fahrgestell als Stütze, und unter Magdas fürsorglicher Mithilfe konnte ich auch diesen Tag, wenn auch mit größeren Unterbrechungen, bestehen. Nach ein paar Tagen war alles wieder in Ordnung.

Am 1. Juli gelangten wir marschierenderweise nach Gollnow. Hier ergab sich die Gelegenheit, mit einem militärischen LKW bis nach Altdamm zu fahren. Wie hilfreich war uns dieses Angebot, denn die Zeit drängte, es war der vorletzte Tag laut Dokument! Der Hauptübergang über die Oder, so hörten wir hier in Altdamm, sei eine Scheune bei Stettin. Doch allen Gerüchten nach zu urteilen, sei dieser Übergang wegen Überfüllung des Auffanglagers gesperrt worden. Darüber waren wir natürlich äußerst enttäuscht und versuchten auch gar nicht weiter, dorthin zu kommen.

Angeblich bestand eine weitere Möglichkeit, die Oder südlich von Stettin zu passieren, doch von genaueren Angaben war nichts zu erfahren. Ohne Konkretes zu wissen, marschierten wir jetzt an der Oder aufwärts, Richtung Finkenwalde - Greifenhagen. Sehr bald merkten wir, daß es immer lebhafter auf dieser Straße wurde. Immer mehr Menschen kamen dazu, und wir waren jetzt nicht mehr einsame Wanderer wie bisher. Demnach mußte die Richtung wohl stimmen, die wir eingeschlagen hatten; und das gab uns das Gefühl der Gemeinsamkeit mit all den wandernden Menschen. Das aber muß noch gesagt werden: die letzte Strecke unserer Etappe “Oder-Neiße-Linie” hat uns wahrlich am meisten an Kraft und Spannung abverlangt!

Dann kam der 3. Juli, bei herrlichstem Sonnenschein, erkannten wir, weithin sichtbar, eine unendlich lange, leuchtende, helle Holzbrücke über dem breiten Strom und der gesamten Flußlandschaft. Es war mir wie ein freundliches Grüßen von Westen her, gleich einem verbindenden Band! Wir waren erleichtert, wir hatten es geschafft. Wir hatten den Übergang Ferdinandstein rechtzeitig erreicht! Auf der letzten Strecke vor der Brück hatte sich uns ein junger Mann in etwas verwunderlichem Zivil angeschlossen und bat uns inständig, daß wir ihn doch mit hinüberschleusen möchten. Er hatte als Kriegsgefangener entkommen können und war ohne jegliche Papiere, ohne Ausweise. Wir wollten es versuchen.

Vor der Brücke war die Kontrolle, ein “Stab von Uniformierten”, aufgebaut; man ging äußerst korrekt dabei vor. Unsere Dokument schien in Ordnung zu sein, denn wir wurden aufgefordert, die Brücke zu passieren, und selbst der eigentlich überzählige junge Mann war dazugerechnet worden. War man in dem unentwegten Trubel nachsichtig geworden? Wir wußten nicht den Zusammenhang dafür zu finden, aber unser aller Freude war groß darüber.

Während die Sonne sich zum Untergang anschickte, begann die Brückenwanderung. Es wurden Lieder angestimmt, alte, vertraute aus der Heimat. Und wir konnten nicht umhin, auch mit einzustimmen. Da kam Freude auf, so glaubte man, oder war es das ungestillte Heimweh? Schon die Brücke bdeutete für uns Neuland. Meiner Schätzung nach waren es einige Kilometer, die wir auf der Brücke marschierten. Man erzählte, daß die Brücke noch kurz vor Kriegsende zum Zweck der hier zu erwartenden Kampfhandlungen von Pionieren erbaut worden war. Es war schon dunkel geworden, als wir die Brück verließen und in das Auffanglager Schillersdorf kamen, eine riesige Lagerhalle, die über und über von Menschen wimmelte. Aber es gelang uns doch noch, ein Eckchen auf der bloßen Erde als Ruhestätte für die kommende Nacht zu finden. Aber der Schlaf kam noch lange nicht.

Der nächste Tag fand uns wieder auf der Straße, und nach kurzer Zeit waren wir per LKW am Stadtrand von Gartz/Oder angelangt. Jetzt wollten wir erstmal eine Pause einlegen, etwas ausruhen. Ein kleines, niedriges Haus schien uns dafür geeignet. Doch auch das war voll von Menschen, die wie wir unterwegs waren und eine Bleibe suchten. Als wir aber doch noch um eine Unterkunft fragten, gesellte sich ein freundlicher Mann zu uns. Wir erzählten über unser “Woher” und “Wohin”, und als wir uns gegenseitig bekannt machten, unsere Namen nannten, stellte sich heraus, daß dieser Mann ein guter Bekannter unseres Bruders war. Jetzt wurde er noch freundlicher und aufgeschlossener, mühte sich nun um eine Unterbringung für uns in diesem Haus, die wir gern und dankbar annahmen. Ja, wir durften hier erleben, daß doch eine so ungewollte Notgemeinschaft auch Erfreuliches und Schönes geben kann.

Am übernächsten Tag aber brachen wir erneut auf. Auch auf dieser Strecke hatten wir oft Gelegenheit, von Militärfahrzeugen mitgenommen zu werden. Zuvor hatten wir jedoch unsere Vorurteile und Ängste gegenüber diesen Menschen gründlich abbauen müssen und konnten erkennen, daß es für uns wirklich ein angenehmes Entgegenkommen war, streckenweise mitfahren zu können. Wie oft schon wollten Verstimmungen aufkommen, denn wir alle waren solchen anhaltenden Strapazen und Entbehrungen nicht mehr voll gewachsen. Doch immer wieder sind uns irgendwie Hilfe und Zuspruch von Menschen hier und da zuteil geworden.

So gelangten wir an jenem Tg in kurzer Zeit nach Schwedt/Oder, setzten dann ber unseren Weg weiter bis nach Angermünde fort. Hier konnten wir bei einer Familie Burmeister einen Tag lang ausruhen und hörten hier von schon bestehenden Zugverbindungen nach Berlin, wohl aber von recht unregelmäßigen.

Ein Güterzug brachte uns dann von Angermünde bis nach Eberswalde, wo wir auf dem Bahnhof mit Leuten aus Schwerinshöhe und Stolp zusammentrafen. Erst gegen Abend furh ein Zug weiter nach Berlin - Stettiner Bahnhof. Es wr 23 Uhr geworden; wir mußten somit die Nacht im Bahnhofsgeländer verbringen.

Im Stadttel Wedding nahm uns am nächsten Tag eine Familie freundlich auf, und am daraufffolgenden Tag bestiegen wir aufdem Bahnhof Berlin-Lankwitz wieder einen Güterzug, der bis Jüterborg fuhr. Die Nacht mußten wir im Waggon bleiben.

Am nächsten Morgen hatten wir eine Zugverbindung bis nach  Wittenberg (Lutherstadt), marschierten dann weiter bis zu der Ortschaft Pratau, um über die Elbe zu gelangen. Von hier aus konnten wir einen Personenzug benutzen, der aber nur die kurze Strecke bis Muldenstein fuhr. Ein Abteil in diesem Personenzug war dann für die kommende Nacht unser Quartier.

Das nächste Problem, das sich für uns auftat, war der Übergang über die Mulde, da sämtliche Brücken zerstört waren. Frühmorgens um 5 Uhr starteten wir zum ersten Versuch. Gab es da wohl eine Möglichkeit? In dieser Notsituation konnten nur noch Bestechung, Geld oder List etwas erreichen. Und es gab da etwas!

Es war Mittag geworden, als uns drei Männer mit einem recht altersschwachen, anscheinend nochmals flottgemachten Kahn über die Mulde setzten. Das ganze geschah nur auf Gegenleistung. Vor dem Start war pro Kopf eine recht ansehnliche Summe ausgehandelt worden. Ich zweifle, ob wohl alle dort Wartenden die Summe für die Überfahrt zur Verfügung hatten. Bei uns schmolz das bis dahin gehütete Bargeld bedenklich zusammen. Aber wozu darüber sich ernstliche Gedanken machen, wenn bisher doch Herberge und Nahrung so gut wie umsonst gewesen waren! Und als wir dann noch feststellen mußten, daß alle Züge hier in Sachsen ohne Fahrkarte benutzt werden konnten, waren wir umso zuversichtlicher. Als wir am späten Nachmittag Bitterfeld erreichten, fanden wir erst nach vielem Bemühen ein Unterkommen für eine Nacht.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit einem Personenzug von Bitterfeld über Hale bis nach Merseburg, wo wir bei einer bekannten Familie für einige Tage aufgenommen wurden. Und hier fiel auch von unserer Seite aus der Entschluß, von nun an eigene Wege zu gehen.

Magda erinnerte sich einer früheren Berufskollegin in Hamburg-Harburg, und ich gedachte einer langjährigen Freundin in Kassel-Wilhelmshöhe. Wir hatten uns 1934 als Arbeitsmaiden in Pommern kennengelernt, und seitdem bestand eine ununterbrochene Freundschaft. aus dem letzten Brief von Anfang 1945 wußte ich, daß sie und ihre Angehörigen 1944 in Kassel ausgebombt wurden und deshalb in ihr Landhaus bei Friedrichsroda im Thüringer Wald übergesiedelt waren. Also wollten wir zunächst unseren Weg dorthin nehmen.

Nach einer kurzen Verabschiedung am nächsten Morgen von unseren bisherigen Weggefährten, machtenw ir uns auf den Weg zum Bahnhof. Dort stand schon ein Zug zur Abfahrt bereit, doch konnten wir nicht erfahren, wohin der Zug fahren würde. Es gab keinen Schaffner für diesen Zug, den wir hätten fragen können. Selbst der Lokführer wollte nichts genaues wissen. So stiegen wir ein und kamen auf Umwegen über Halle - Sangershausen nach Nordhausen. Hier gab es eine korrekte Auskunft, und bald darauf konnten wir eine direkte Verbindung nach Erfurt bekommen. Inzwischen war es Nachmittag geworden, als wir dort eintrafen. So blieb, wie an jedem Tag, die gleiche Frage: Wo werden wir diese Nacht bleiben können?

Da trafen wir auf dem Erfurter Bahnhof andere Durchreisende, die uns das Ursulinen-Kloster in der Stadt nannten, wo wie für eine Nacht unterkommen könnten. Wir fanden dann das besagte Kloster und wurden von freundlichen Schwestern liebevoll aufgenommen. Nach einem erfrischenden Bad fanden wir in einem großen Speisesaal eine warme Mahlzeit für uns bereit. Und als uns unsere Betten zugewiesen wurden, waren wir ganz gerührt über so viel herzliche, selbstlose Nächstenliebe, die absolut nichts mit einer Gegenleistung zu tun haben wollte. Den Abschluß bildete am nächsten Morgen ein gutes, reichliches Frühstück.

Von Erfurt aus hatten wir gute Zugverbindung nach Gotha - Friedrichsroda, wo wir schon um die Mittagszeit ankamen. Von dort waren es nur noch wenige Kilometer Fußmarsch bis zu dem kleinen Ort Engelsbach. Wir fanden das gesuchte Haus idyllisch am bewaldeten Hang gelegen und erlebten dann bei unserer Ankunft eine Bereitschaft, eine Gastfreundschaft von ungeahnter Herzlichkeit mit viel Verständnis für unsere Nöte. Dieser kleine freundliche Ort, von feindlichen Truppen fast ganz unberührt geblieben, war gerade dazu angetan, jetzt etwas Abstand zu nehmen von all unseren Erlebnissen und Strapazen. So dauerte unser Aufenthalt hier mehr als eine Woche. Inzwischen planten und bereiteten wir Magdas Reise nach Hamburg vor, auf der ich sie begleiten wollte.

Wieder trafen wir mit anderen Flüchtenden zusammen, die denWeg nach Westen suchten. Auf der Strecke Friedrichsroda - Gotha - Mühlhausen - Heiligenstadt - Ahrenshausen konnten wir nur teilweise einen Zug benutzten; den größten Teil mußten wir marschieren. In Heiligenstadt erfuhren wir näheres über die Grenze, doch es waren alles unsichere Nachrichten. Um die Abwanderung nach Westen hin zu unterbinden, wurde hier der Übergang militärisch überwacht und untersagt. Man mußte einfach das Unternehmen wagen!

In dem Grenzort Ahrenshausen hattenw ir die letzte Nacht in der Scheune verbringen müssen, da der Ort vollkommen überlaufen war. Auf Schleichwegen, die von Einheimischen erkundet worden waren, versuchten wir am nächsten Morgen uns der Grenze, hier einer bewaldeten Schlucht, zu nähern. Wir waren nur eine kleine Gruppe von jungen Leuten mit nicht allzu viel Gepäck, dafür aber mit einer Menge unterschütterlichem Optimismus, der uns dann auch nicht verließ, als wir in eine militärische Patrouille gerieten, die uns bis zur nächsten Kommandantur führte. Es folgten Verhör und Kontrolle unseres Gepäcks, und mit der ausdrücklichen Anweisung Richtung Osten zu gehen, wurden wir entlassen. Daß es uns dennoch gelang, zusammen in dieser kleinen Gruppe dort unbehelligt den Übergang zu schaffen, war uns allen ein wahres Wunder! Wir waren in der West-Zone! Es war am 27. Juli 1945 gegen 14 Uhr.

Die nächste Bahnstation ist Eichenberg, wo wir später eine Zugverbindung nach Göttingen bekommen. Hier überbringen wir an die Schwiegereltern meiner Freundin Grüße und können ein paar Tage ausruhen.

Danach fahren wir mit einem Eilzug über Hannover bis nach Bremen und bleiben die Nacht über im Wartesaal. Der nächste Tag sieht nich viel anders aus. Wir kommen in Hamburg erst gegen 22 Uhr an und müssen wiederum die Nacht dort im Wartesaal verbringen. Der Hamburger Hauptbahnhof bot ein trostloses, freudloses Bild, vollgestopft von elenden Menschenmassen, die vielleicht ganz ohne Ziel und Bleibe hier herumirrten.

Als auch Magda bei ihrer Bekannten ein vorläufiges Unterkommen findet, sind wir über die Maßen froh und dankbar.

Nach zwei Tagen mache ich mich wieder auf den Rückweg. Jetzt bekomme ich von Hamburg aus direkte Verbindung über Hannover bis nach Göttingen, so daß ich die Nacht in der Bahnhofsunterführung verbringen muß, zusammen mit vielen anderen Durchreisenden.

Am Morgen werde ich, wie vor der Hamburger Reise angeboten, bei den Schwiegereltern der Freundin wieder herzlich aufgenommen; man bot mir sogar an, doch ganz in Göttingen zu bleiben. Das war natürlich ein überraschenden Angebot, und ich nahm es an.

Die Zuzugsgenehmigung für mich erhielten wir dann nach persönlicher Rücksprache mit dem Bürgermeister der Stadt; es mußte ja alles seine Richtigkeit haben.

So ist mir auf diese Weise die niedersächsische Universitätsstadt Göttingen zur unfreiwilligen, vorläufigen Wahlheimat geworden.

Inzwischen war es Oktober, und unser langer Weg hatte vorerst ein Ende gefunden.

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