Pommernfahrt 2004

“Ick weit einen Eikbom, de steiht an de See, de Nordsturm, de brust in sin Knäst; stolz reckt hei de mächtige Kron in de Höh, so is dat all dusend Johr weest. Kein Minschenhand, de hett em plant, hei reckt sick von Pommern bet Nederland.”

 

So hat Fritz Reuter gedichtet, und so hat unser Vater oft mit uns gesungen! Diesen Nordsturm konnten wir im Mai auf unserer Reise in die alte Heimat erleben. In Stolpmünde wagten sich nur einige der Gruppe an den Strand, um sogleich das Naß der Ostsee zu spüren, und in Scholpin hätten uns nur noch die Flügel gefehlt, wir wären weggetragen worden. Kalt und stürmisch zeigte sich in diesem Mai unser Pommernland, dennoch mit viel Sonnenschein und prächtigen weißen Wolken. Für unsere Wanderungen hatten wir das ideale Wetter, und die waren ja geplant, um unsere engere Heimat zu Fuß wahrzunehmen. Im Hotel ““Staromiejski” in Stolp hatten wir in neu gestalteten Zimmern und bei schmackhafter Küche eine gute Unterkunft für die 5 Tage. Stolp zeigte sich wieder als günstiger Ausgangspunkt für alle Unternehmungen und auch die kleineren Spaziergänge in der Stadt. So waren es 39 Personen, die sich am 16.05.2004 über Braunschweig-Stettin mit dem bewährten Reiseunternehmen BUSCHE und einem sicheren Fahrer Horst auf den Weg machten. An der neuen EU-Grenze gab es keine Paßkontrolle!

 

Am Montag ging es natürlich gleich nach Silkow. Einige steigen an der ehemaligen Mühle aus (Wummels Mühle und auch die Forellenzucht existieren nicht mehr), andere bei Bonins, Rudnicks fuhren zu ihrem Geburtsort Glowitz weiter, Lucie zu ihrem Elternhaus in Gutzmerow, und Kutters nach Dresow. Die übrigen 11 wanderten über Sorchow-Schojow-das Wehr zum Schojower Damm. Erschüttert waren wir über die spärlichen Überreste auf dem Friedhof in Sorchow: das Kriegerdenkmal liegt in Trümmern, Stahlhelm, Schwert und “Durch Nacht zum Licht” sind schemenhaft zu erkennen, ebenso einige Namen wie Zaddach, Kerlin, Kranz, Wrobel oder Topel. Das Grab von August Spiller, dem Vater des Lehrers, ist als einziges erhalten. Uns wurde gesagt, daß arbeitslose Polen nach Auflösung der Kolchosen die schönen alten gußeisernen Kreuze abschlugen, um von dem Erlös Fusel zu erstehen.

Auch in Schojow gab es kein anderes Bild, wir stiegen über Gebüsch und Steine und entdeckten noch das Grab des Leutnants Waldemar Lutz, der am 10.09.1939 den Fliegertod starb, das Grab von Martha Wendt, geb. Klick (1891-1927) und ein einfaches Holzkreuz am Baum, an dem Kinder gerade ein Sträußchen Löwenzahn niedergelegt hatten, es sollte an Otto Remus erinnern, der am 04.05.1956 (!) gestorben war. Alle übrigen Toten des Dorfes ruhen unter unwegsamen Gestrüpp.

Einen guten Eindruck machte das Herrenhaus der “von Braunschweig” in Sorchow, das von Polen bewirtschaftete Gelände sollte nicht mehr begangen werden! In Schojow suchten wir vergeblich nach der Brennerei, alle Gebäude sind abgerissen, das “Neue Schloß” der “von Schwerin” sieht nach wie vor verheerend aus. Am erschütterndsten allerdings war der Anblick des Trümmerhaufens, der einst das Elternhaus von unserem Freund Friedel Grube war. Vor 2 Jahren erklärte uns Friedel noch von der Eingangstreppe aus die Funktion des Wehrs, den Arbeitsplatz seines Vaters. Alle wurden still!

Die schnellen Wanderer gönnten sich einen sonnigen Ruhe platz am Schojower Damm, wo sie unseren Bus erwarteten. BUSCHES Würstchen wurden hier verschmäht. Luise hatte Besseres zu bieten: hausgemachte Würste aus Beendorf, eigens für dieses Picknick mitgeschleppt! Vielen Dank! Aus der neuen Heimat bei Kassel nahm auch ich ein Blumengesteck im Bus mit. Vor dem Kriegerdenkmal hielten wir inne, um es niederzulegen. Unserer Toten gedachten wir in der Heimatkirche mit einer kurzen Andacht vor der 2002 geweihten Gedenktafel. Ein Dank- und Loblied gaben unserer Stimmung Ausdruck.

Für 2 Stunden flog die Gruppe sternförmig aus, und alle hatten die Möglichkeit, ihre Elternhäuser und was davon noch stand, zu besuchen. Luise und Helfried wurden äußerst herzlich in “Gabbeys” Haus aufgenommen und erneut eingeladen, Hartmut und Schwager Heinrich sahen zum ersten Mal das Mielkesche Gut, an das Hartmut wohl kaum mehr eine Erinnerung hatte, die Geschwister Rudnick fanden leider keine “Polizeistation” mehr vor, Norbert und Simone Musch wurden auf dem ehemaligen Friedhof von polnischen Kindern mit Ginster beschenkt. Die 6- und 8-Jährigen wußten: “Deutscher Friedhof”!

Mit der Ostpreußin Halina aus dem Hause Fleischer Stielau besuchte ich kurz die neue junge Bürgermeisterin im Hause von Maurer Schulz. Sie führt mit ihrem Mann mit großem Fleiß den jetzt größten Bauernhof in Silkow (150 ha, 60 Kühe). In Arbeitskleidung begrüßte sie mich freundlich und meinte, wir sollten noch oft wiederkommen! Zufrieden kehrten alle an dem Tag nach Stolp zurück.

 

Der zweite Tag galt zunächst dem Besuch von Stolpmünde. Trotz des Sturmes spazierten alle auf der Mole und auf der gepflegten Promenade entlang. 5 besonders Mutige wagten sich auf eine alte Hansekogge, die 40 Minuten lang auf der aufgebrachten See ins Meer hinaus schaukelte. Das rettende Ufer ersehnten sich vor allem die vielen Schulkinder, denen das Schaukeln in der Magengegend nicht so gut bekam! Für ein Foto mit Pirat waren aber alle wieder fit.

In Stolpmünde muß man natürlich die leckeren Flundern probieren. 35 Fischessen gingen im Fischlokal “Albatros” über die Theke, frische Maischolle ist einfach was Feines.

Am Nachmittag hatten wir in Stolp Zeit für eine Stadtrundfahrt mit unserem Bus. Unser Reiseleiter Marian führte uns zunächst in die Nähe der Blücherkaserne, von wo aus wir eine herrliche Aussicht auf die alte und neue Stadt “Slupsk” hatten: wir sahen die vielen Neubaugebiete der Stadt, das seit Jahren im Bau befindliche neue Krankenhaus, den neuen Bahnhof und schließlich das hundertjährige Rathaus, nach wie vor ein Schmuckstück Stolps. Unsere Überraschung war groß, als wir nicht nur den herrlichen Sitzungssaal mit den bedeutenden deutschen Glasfenstern besichtigen durften, sondern auch das Uhrwerk der Rathausuhr und den Turm, von dem man eine wunderbare Aussicht auf das Umfeld hat: Kaufhaus Zeek, Cafe Reinhard, das Neue Tor, Post, Schloß und Schloßkirche und die dicke Marienkirche mit ihrer wieder hergestellten barocken Turmhaube. Ein großartiges Erlebnis für alle!

Im Museum im Schloß suchten wir vergeblich nach den Deckengemälden der Schmolsiner Kirche, entdeckten aber das Bild des Predigers Michael Brüggemann (geb. 1578) - auch Pontanus genannt - der Luthers Katechismus, Gebete, Psalmen Davids und die Passionsgeschichte ins Kaschubische übersetzte, eine Hilfe für alle Pastoren, die in den Gemeinden um den Garder- und Lebasee kaschubisch predigten. Wir bewunderten die Sarkophage der Fürstin Anna und ihres Sohnes Ernst von Croy, den sie bewußt protestantisch erziehen ließ; ihre Portraits finden wir im Altar der Schmolsiner Kirche, die sie ausstatten ließ (1632 geweiht). Auch bemerkenswerte Möbel, Kunstschmiedegegenstände, Altäre und Marienskulpturen nennt das Museum sein Eigen. Zum Besuch des Volkskundemuseums in der ehemaligen Schloßmühle kamen wir leider nicht mehr, um evtl. kaschubische Volkskunst zu entdecken.

 

Am 3. Tag sollte wieder einmal gewandert werden. Wir wollten unseren höchsten Berg, den heiligen Berg der Kaschuben, den Revekol mit seinen 115 m besteigen. Durch einen Wald im frischen Maiengrün ging es auf zwei unterschiedlichen steilen Wegen hinauf und gegen einen Obolus von 3 Zloty sogar auf den Turm. Diese Aussicht auf die Seen, die Wanderdünen und die Ostsee! Eine wunderbare Schilderung des Berges könnt Ihr in Friedel Grubes “Flußlandschaft” lesen!

Auf dem Weg nach Groß-Garde besuchten wir zunächst die hübsche Kirche in Schmolsin, staunten über den Kanzelaufgang, mit Bildern der Aposteln bemalt, über die Mosesfigur, auf der die Kanzel ruht, über die Portraits der “von Croy” und das besonders auffällige Ecce-Homo-Altargemälde, bei dem Ingrid Seddigs Großvater Ferdinand Pigorsch der Malerin Cordula von Bandemer Modell stand.

Ein Besuch auf dem Schmolsiner Friedhof machte uns wieder traurig, war doch der deutsche Teil nicht so gepflegt, wie es bei der Einweihung des Gedenksteines in 2001 versprochen wurde. Bei den Rest-Grabsteinen fanden wir die Namen Kollesch, Eich, Huwe und Köpke.

Einem besonderen Wunsch von uns wurde in Groß-Garde entsprochen: wir tranken gemeinsam mit den Rest-Deutschen (!) Janina Pawluk, ihrer Mutter  Judaschke und Gabi ... Kaffee. Alle Plätze im Hotel “Delphin” waren mit Gedecken und einem belegten Kuchenteller eingedeckt. Janina sagte Dank für die Unterstützung durch unsere Dorfgemeinschaft für ihre augenkranke Tochter und erfreute uns mit einer plattdeutschen Legende um die “Teufelsinsel” im Garder See. Einen Blick über den Garder See konnten wir gar nicht genießen, es tobte ein entsetzlicher Sturm.

 

Ein Ausflug nach Danzig wurde uns am Himmelfahrtstag geboten. Unser Reiseleiter Marian war hier als geborener Danziger in seinem Element und mit Begeisterung dabei, uns Besonderheiten zu zeigen, die nicht in allen Touristenprogrammen vorkommen: das Memling-Gemälde in der Marienkirche, das Kuhtor, den Danziger Bowke, das “Goldene Haus” mit Büsten aus Florenz, die weltliche Ratsstube in der Kirche etc. Uns hat es gefreut, wieder einmal durch die lebhaften Gassen zu streifen und den im Übermaß angebotenen Bernstein- das Gold der Ostsee - zu bewundern und auch zu erstehen.

Interessant waren die Ausführungen Marians im Bus: u.a. von den 95 % getauften Polen besuchen 60 % regelmäßig die Messen, von 100 Ehepaaren lassen sich im Durchschnitt 12 scheiden, der monatliche Verdienst ist durchschnittlich 2000 Zloty = 500 €, in Pommern (z.B. Bütow) gibt es 37 - 40 % Arbeitslose, Polen ist das korrupteste Land hinter Bulgarien, es gibt 300 Parteien in Polen, 50.000 Störche, 1l Milch ist dreimal so teuer wie 1l Mineralwasser! Es wird alles teurer dank des EU-Beitritts, dennoch sind Polen Optimisten!

Auf unserer Rückreise nach Stolp nahmen wir die südliche Richtung und durchfuhren die landschaftlich bezaubernde Kaschubei mit dem Hauptort Karthaus/Kartuzy. In einer Führung durch einen geschäftstüchtigen, aber auch witzigen, humorvollen deutschsprechenden Priester lernten wir die Klosterkirche kennen mit ihrem wunderschönen Schnitzwerk an Gestühl und Altar. “Memento mori” (Gedenke zu sterben) ist das Motto der Karthäuser Klosterbrüder, deren Tage ausgefüllt sind mit: 8 Std. Schlaf, 8 Std. Gebet, 8 Std. Arbeit - sie schlafen im Sarg!

Das Kaschubische Museum in Karthaus ließ uns an unser Brauchtum daheim erinnern: wir sahen u.a. den Schimmelreiter, den Schabbuck, den Strohbären, und Marian versuchte sich auf der Teufelsgeige. Hübsch war die Fahrt durch die Kaschubische Schweiz, dem Land der 300 Seen.

 

Nun erleben wir schon den 5. Tag! Es soll noch einmal in die Natur gehen: nach Klucken ins Freilichtmuseum und zur Scholpiner Düne. Wir lassen uns 100 Jahre zurückversetzen, in kleine Katen, Fischerhäuser, mehr oder weniger einfach eingerichtete Stuben mit Gerätschaften, die zum Fischen und Torfstechen gebraucht wurden. Das ganze Museum macht den Eindruck, die polnische Geschichte widerzuspiegeln, es handelt sich aber um Häuser der ehemaligen Kluckener, Nachfahren der evangelischen Lebakaschuben, die von Polen nach 1947 nach vielen Ausschreitungen schließlich vertrieben wurden.

Den langen Weg zum Aussichtsturm schafften nur einige von uns, aber die hatten natürlich einen weiten Blick über Lebasee und Ostsee. Vom Parkplatz Scholpin aus konnten wir dann alle noch die stürmische See erleben. Ein hübscher Wanderweg führte durch Kiefernwald und Dünen zum offenen Meer. Schließlich mußte hier ja das Pommernlied gegen den Sturm gesungen werden!

Mit Sekt und Dank an Marian nahmen wir abends Abschied vom Hotel “Staromiejksi” (Kleins Hotel) und nach fünf ausgefüllten, erlebnisreichen Tagen in der alten Heimat erreichten wir ohne Zwischenfälle - z.T. leicht lädiert durch Erkältung und Heiserkeit - den heimatlichen Hafen bei BUSCHE und schließlich das eigene Zuhause.

Erdmute Gerst

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